So, wie versprochen hier die erste Kurzgeschichte. Wir haben sie im Unterricht durchgenommen und sie hat mir schon da einfach extrem gut gefallen. Aber ich will es euch nicht länger vorenthalten, hier ist sie:
Günter Kunert - Zentralbahnhof
An einem sonnigen Morgen...
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Wie würdet ihr sie interperetieren? Findet ihr, dass sie gut geschrieben ist oder nicht?
Günter Kunert - Zentralbahnhof
An einem sonnigen Morgen...
...stößt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein
amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Wie es dahin
kam, ist ungewiß. Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung:
Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am
5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des
Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Für Sie ist Kabine 18
vorgesehen. Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der
verwaltungdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt
sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
Wenig später taucht der solchermaßen Betroffene verzagt bei seinen Freunden
auf. Getränke und Imbiß lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur
ernstes und bedeutungsvolles Kopfschütteln. Ein einscheidender Hinweis, ein
Hilfsangebot bleibt aus. Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch
begrenzt Lebendigen die Tür wieder zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel
gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öffnen. Lohnte es denn, wer weiß was alles auf sich
zu laden für einen Menschen, von dem in Zukunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird,
eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um
Repressalien auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof höre sich doch ganz
erträglich und vernünftig an. Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Hinrichtung
Wahrscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei "Einrichtung" gemeint. Warum nicht?
Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, daß man von seinem frisch gebackenen
Klienten verlage, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muß Vertrauen
haben! Vertrauen ist das wichtigste.
Daheim wälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine
durchfeuchteten Laken. Erfüllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten
Summen einer Fliege. Die lebt! Die hat keine Sorgen! Was weiß die schon vom
Zentralbahnhof?! Man weiß ja selber nichts darüber... Mitten in der Nacht läutet er an
der Tür des Nachbarn. Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig,
ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf löst.
Pünktlich um acht Uhr morgens betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof,
fröstelnd in einem kurzärmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das leichteste, was
er an derartiger Bekleidung besitzt. Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser
Gepäckträger. Der Boden wird gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine
18 entdeckt er sofort. Er schiebt eine Münze ins Schließwerk der Tür, die aufschwingt,
und tritt ein. Wild zuckt in ihm die Gewißheit auf, daß gar nichts passieren wird. Gar
nichts! Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Gleich wird es vorüber sein, und er
kann wieder nach Hause gehen. Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung
steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er das Schloß zu und setzt sich.
Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit
einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus,
um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder
wußte, daß ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über
seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing.
amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Wie es dahin
kam, ist ungewiß. Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung:
Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am
5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des
Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Für Sie ist Kabine 18
vorgesehen. Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der
verwaltungdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt
sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
Wenig später taucht der solchermaßen Betroffene verzagt bei seinen Freunden
auf. Getränke und Imbiß lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur
ernstes und bedeutungsvolles Kopfschütteln. Ein einscheidender Hinweis, ein
Hilfsangebot bleibt aus. Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch
begrenzt Lebendigen die Tür wieder zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel
gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öffnen. Lohnte es denn, wer weiß was alles auf sich
zu laden für einen Menschen, von dem in Zukunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird,
eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um
Repressalien auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof höre sich doch ganz
erträglich und vernünftig an. Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Hinrichtung
Wahrscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei "Einrichtung" gemeint. Warum nicht?
Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, daß man von seinem frisch gebackenen
Klienten verlage, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muß Vertrauen
haben! Vertrauen ist das wichtigste.
Daheim wälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine
durchfeuchteten Laken. Erfüllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten
Summen einer Fliege. Die lebt! Die hat keine Sorgen! Was weiß die schon vom
Zentralbahnhof?! Man weiß ja selber nichts darüber... Mitten in der Nacht läutet er an
der Tür des Nachbarn. Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig,
ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf löst.
Pünktlich um acht Uhr morgens betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof,
fröstelnd in einem kurzärmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das leichteste, was
er an derartiger Bekleidung besitzt. Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser
Gepäckträger. Der Boden wird gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine
18 entdeckt er sofort. Er schiebt eine Münze ins Schließwerk der Tür, die aufschwingt,
und tritt ein. Wild zuckt in ihm die Gewißheit auf, daß gar nichts passieren wird. Gar
nichts! Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Gleich wird es vorüber sein, und er
kann wieder nach Hause gehen. Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung
steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er das Schloß zu und setzt sich.
Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit
einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus,
um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder
wußte, daß ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über
seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing.
Wie würdet ihr sie interperetieren? Findet ihr, dass sie gut geschrieben ist oder nicht?