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wann mit eiserner faust die antikorruptionskampagne durchziehen?
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Die Moskau-Connection
Gerhard Schröder hat nach seiner Kanzlerschaft weiterhin die Russlandpolitik der Bundesrepublik mitbestimmt. Der Schlüssel dazu waren seine Netzwerke in Politik und Wirtschaft sowie der SPD-Mythos Entspannungspolitik.
Von Reinhard Bingener und Markus Wehner
Der Einzug in die Niedersächsische Staatskanzlei im Sommer 1990 markiert den eigentlichen Beginn von Schröders Netzwerk. Als Ministerpräsident hat Schröder mehr Möglichkeiten als bisher, Posten zu besetzen und Karrieren zu beschleunigen. Im Umfeld des SPD-Politikers tauchen nun viele Namen auf, die später mit Schröder nach Berlin wechseln und für die deutsche Russlandpolitik wichtig werden. Brigitte Zypries übernimmt in Schröders Staatskanzlei das Referat für Verfassungsrecht. Mit Frank-Walter Steinmeier lotst Zypries zudem einen Kommilitonen aus ihrer Gießener Studienzeit nach Niedersachsen. Zypries und Steinmeier hatten in den 1980er-Jahren für die juristische Fachzeitschrift "Demokratie und Recht" gearbeitet, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Die Publikation erschien im Pahl-Rugenstein Verlag, der maßgeblich von der DDR finanziert wurde. 1990 zählt Steinmeier ebenso wie Schröder zu den Gegnern des raschen Einigungsprozesses. "Du passt zu uns", soll Schröder beim Vorstellungsgespräch zu Steinmeier gesagt haben.
Es gibt noch einen weiteren Vertrauten Schröders, der 1998 von Hannover nach Berlin wechselt. Im Unterschied zu den genannten Politikern taucht sein Name in den einschlägigen Schröder-Biographien nicht auf: Heino Wiese. Der 1952 geborene Sozialdemokrat lernt Schröder 1982 bei der berühmten Currywurst in der Gaststätte "Plümecke" kennen. Von 1990 bis 2003 übt Wiese einflussreiche Funktionen in der niedersächsischen Sozialdemokratie aus. Er ist Geschäftsführer des SPD-Bezirks Hannover und Landesgeschäftsführer der niedersächsischen SPD. Wiese kontrolliert damit die Parteizentrale in der Odeonstraße weitgehend, managt die Wahlkämpfe Schröders. Er baut sich ein einzigartig dichtes Netz innerhalb der niedersächsischen SPD auf. Im Zentrum steht nach Wieses Darlegung "das Team Gerhard Schröder" mit Steinmeier und Zypries, das man sich wie eine alte Fußballmannschaft vorstellen könne. Zum Bogen der langjährigen Wiese-Vertrauten zählen auch Sigmar Gabriel, der heutige niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil und der heutige SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil.
Auffällig in Schröders Netzwerk ist die hohe Zahl der Wechselbeziehungen, die finanziell unterlegt sind. Innerhalb dieses Netzes könnte man so vielfältige Ketten beschreiben. Heino Wiese fädelt den Einstieg des Oligarchen Alexej Mordaschow bei der vom sozialdemokratischen Manager Michael Frenzel geführten TUI ein, die wiederum die Arena des Bauunternehmers Günter Papenburg sponsert; Papenburg hält Anteile an dem Stahlunternehmen Salzgitter AG, das Schröder einst als Ministerpräsident mit Staatsgeldern Frenzels TUI-Vorläufer Preussag abkaufte und das später Röhren für das von Schröder beaufsichtigte Unternehmen Nord Stream 2 sowie andere Pipeline-Projekte des Kremls liefert, dessen Honorarkonsul in Hannover wiederum Heino Wiese ist. Und alle genannten Personen treffen sich zeitweilig in der gemeinsamen "G 6"-Loge bei Hannover 96. Blickt man auf die strukturellen Merkmale des Schröder-Netzes, so fällt die weitgehende Abwesenheit von Frauen auf. Schröders Umfeld trägt männerbündische Züge. Es besteht vorwiegend aus erfolgreichen und wohlhabenden Herren, die meist über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen. Weniger ausgeprägt sind Schamgefühle. Drückerkolonnen und Kontakte zu kriminellen Rockern gelten ebenso wenig als Zugangshindernis wie ausgeprägte Kontakte nach Iran, nach China oder nach Russland. Man trinkt miteinander. Man hilft einander.
Wladimir Putin hat 1997 seine Doktorarbeit am Bergbau-Institut in St. Petersburg abgeliefert. Interessant ist der etwas komplizierte Titel der Arbeit: "Strategische Planung bei der Nutzung der Rohstoffbasis einer Region in Zeiten der Entstehung von Marktmechanismen (St. Petersburg und Leningrader Gebiet)". In der Arbeit wird dem Export von Erdgas und Erdöl eine wichtige Rolle beigemessen, um außenpolitische Ziele durchzusetzen. Dafür allerdings müsse der Energiesektor so weit wie möglich unter staatliche Kontrolle kommen.
Im Glaubensbekenntnis der deutschen Sozialdemokraten gilt die Entspannungspolitik als Grundfeste sozialdemokratischer Außenpolitik - und Kritik an ihr als Angriff auf das Allerheiligste der Partei. Ebenso gilt das für ihre Erfinder Willy Brandt und Egon Bahr, die vor allem wegen dieser "Ostpolitik" zu Ikonen der Partei geworden sind. Mit dieser Politik werden bis heute eine ganze Reihe epochaler positiver Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts verbunden. Dazu gehört die freundschaftliche Beziehung Deutschlands zu den Nachbarn im Osten Europas, die erst dadurch möglich geworden sei. Zudem die Behauptung, ohne die Ostpolitik hätte es keine Überwindung der kommunistischen Herrschaft gegeben. Und nicht zuletzt: Ohne die Politik von Brandt und Bahr wäre die deutsche Einheit nicht zustande gekommen. Alle diese Behauptungen stimmen entweder gar nicht oder aber nur zum Teil. Wer allerdings darauf hinweist, gilt in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie leicht als Kalter Krieger. Die Ostpolitik ist bis heute der erbittert verteidigte Mythos der SPD. Ohne diesen Mythos ist ihre verfehlte Russlandpolitik der letzten zwei Jahrzehnte nicht zu verstehen.
Wie sehr die Entspannungspolitik einen repressiven Charakter gegenüber den Freiheitsbestrebungen im östlichen Europa annahm, zeigen die Reaktionen der SPD-Spitze auf die Situation in Polen Anfang der 1980er-Jahre und die Verhängung des Kriegsrechts. Egon Bahr wirft der Gewerkschaft Solidarnosc vor, den Frieden in Europa aufs Spiel zu setzen. Durch eine Destabilisierung Polens werde das Gleichgewicht der Militärblöcke von NATO und Warschauer Pakt gefährdet, befindet der Architekt der Ostpolitik. Als im Herbst 1981 die Solidarnosc durch Streiks das Machtmonopol der Kommunisten infrage stellt, wird Bahr gefragt, ob die Sowjetunion das Recht habe, in Polen einzuschreiten. "Aber selbstverständlich", antwortet er. Und Herbert Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, fordert schon im August 1981 gegenüber einem Vertrauten von SED-Chef Erich Honecker, man müsse "entschlossene Maßnahmen gegen Polen" einleiten, "je eher, desto besser". Es gehe "nicht ohne innere Gewalt, leider", so Wehner.
Die Auflösung der NATO hatte Oskar Lafontaine in der SPD schon 1983 gefordert. Egon Bahr schreibt nach dem Mauerfall, wer die staatliche Einheit fordere, "muss die Auflösung von Nato und Warschauer Pakt fordern". Im Grundsatzprogramm der SPD von 1989, das bis 2007 in Kraft ist, heißt es, Ziel sei es, "die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen". Dieses Denken ist keineswegs überwunden. Gerhard Schröder fordert noch 2021 in seinem Buch mit Gregor Schöllgen die Auflösung der NATO "in letzter Konsequenz". Europa werde sich so "aus der amerikanischen Vormundschaft lösen können". Das Urteil zu Russland fällt ganz anders aus. Für die Beziehungen nach Moskau brauche es ein stabiles Fundament: "Denn ohne ein belastbares Verhältnis zu Russland hat Europa keine Zukunft." Die Mischung aus Amerika-Skepsis und Russland-Fixiertheit, genährt durch den Mythos der Ostpolitik, führt die SPD auf einen außenpolitischen Kurs, mit dem sie die eigenen Werte von Demokratie und Menschenrechten infrage stellt.
Mitte 2004 adoptieren Schröder und seine vierte Ehefrau Doris Schröder-Köpf ein drei Jahre altes russisches Mädchen aus einem Kinderheim in St. Petersburg. Putin hat dabei geholfen, dass die Angelegenheit unbürokratisch und ohne die üblichen Schmiergelder vonstattengeht. Dass ein 60 Jahre alter, beruflich eingespannter Mann, der drei Mal geschieden ist, und seine 41 Jahre alte Ehefrau offenbar problemlos ein Kind aus dem Ausland adoptieren können, ist keinesfalls die Regel. Viele Organisationen, die sich mit Adoption beschäftigen, sagen sogar, dass das in der Praxis ausgeschlossen sei. Das Ehepaar Schröder selbst schweigt über die Details des Verfahrens. 2007, Schröder ist schon nicht mehr Kanzler, adoptieren er und Schröder-Köpf einen knapp einjährigen Jungen aus St. Petersburg. Putins "Operation Schröder" ist da schon längst über das hinausgegangen, was der russische Präsident sich sechs Jahre zuvor wohl hatte erträumen können.
Nach dem Auszug aus dem Kanzleramt nimmt sich Schröder eine Wohnung in der Behrenstraße 73 neben dem Hotel Adlon. Unter der Wohnung Schröders zieht eine neu gegründete Beratungsfirma ein: die Wiese Consult seines ehemaligen Wahlkampfmanagers Heino Wiese. Wiese wählt ein Lebensmodell, das dem von Schröder verblüffend ähnelt. Beide pendeln zwischen ihrem privaten Umfeld in Hannover und den beruflichen Angelegenheiten in Berlin, hinzu kommen häufige Abstecher nach Moskau und in andere, gerne von Autokraten geführte Länder. Die zwei Politiker leben in einer symbiotischen Beziehung, in der die Kräfteverhältnisse klar verteilt sind. Wie in der Behrenstraße 73, wo er unter Schröder wohnt, übernimmt Heino Wiese die Rolle dessen, der zum Bundeskanzler a. D. hinaufschaut. Bisweilen kippt das Verhältnis ins Unterwürfige. Eine Person, die Wiese in Berlin besuchte, erinnert sich, dass es während der Unterredung in der Behrenstraße 73 von oben durch die Decke klopfte. Offenbar wollte der Altkanzler seinem Vertrauten ein Zeichen geben. Wiese, der sich dazu auf Anfrage nicht äußert, habe das Gespräch darauf umgehend beendet und sei hinaufgeeilt.
Die Wintershall AG bestätigt auf Anfrage, dass sie Wieses Firma drei Aufträge erteilte. Wie mehrere Quellen bestätigen, hat Wiese auch für die OMV gearbeitet. Der maßgeblich vom österreichischen Staat kontrollierte Energiekonzern hat sich stark auf russisches Erdgas ausgerichtet, insbesondere seit 2015 Rainer Seele, bis dahin Chef der Wintershall AG, die Führung übernommen hat. Unter Energiemanagern gilt Seele als Mann Moskaus. Die OMV zählt auch zu den Finanziers der Pipeline Nord Stream 2.
Eine Liste der Bundesregierung über die Treffen mit Pipeline-Lobbyisten zeugt von großer Nähe zu SPD-Politikern. Gabriel trifft sich mindestens 15 Mal mit Vertretern von Gazprom und Nord Stream. Noch häufiger als mit Gazprom-Chef Miller bespricht sich der Wirtschaftsminister mit dem Nord-Stream-Chef und Putin-Vertrauten Matthias Warnig, zwischen Februar 2015 und Januar 2017 sieben Mal. Bei einem Treffen am 27. Februar 2015 ist Gerhard Schröder dabei. Nachdem Gabriel Anfang 2017 ins Auswärtige Amt gewechselt ist, trifft sich Warnig bis zum Juni noch weitere drei Mal mit dem Minister. Doch der Aktionsradius des ehemaligen Stasi-Offiziers Warnig ist nicht auf Berlin beschränkt: Mit Reinhard Silberberg, dem Ständigen Vertreter Deutschlands bei der Europäischen Union in Brüssel, kommt der Nord-Stream-Chef zwischen Ende 2015 und September 2017 fünf Mal in der belgischen Hauptstadt zusammen; im Juni 2016 gibt Silberberg ein Abendessen für Schröder und Warnig. Man kennt sich: Unter Kanzler Schröder war Silberberg von 1998 bis 2005 Leiter der Europaabteilung im Kanzleramt, von 2006 bis 2009 war er unter Steinmeier Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Von Besuchen Warnigs bei Merkel ist nichts bekannt.
Die Zuständigkeit für die historische Einordnung der Kanzlerschaft Schröders übernimmt der bekannte Geschichtswissenschaftler Gregor Schöllgen, dem Schröder von 2011 an Zugang zu seinen Papieren gewährt. Vier Jahre später legt Schöllgen, der an der Universität Erlangen ein "Zentrum für Angewandte Geschichte" aufbaut, eine 1038 Seiten lange Biographie vor. Das Buch avanciert zum Standardwerk. In seiner Beurteilung der Kanzlerschaft Schröders ist Schöllgen sehr wohlwollend. "Lobhudeleien für 35 Euro", schreibt die taz. Der Historiker verschweigt die heiklen Punkte in der Karriere Schröders nicht. Aber er ordnet sie so ein, dass an dem SPD-Politiker kaum etwas hängen bleibt. Die Kritik an Schröders Tätigkeit für Gazprom beispielsweise sei "sicher nicht haltbar", urteilt Schöllgen. Denn die baltischen Staaten und Polen hätten inzwischen ihren Frieden mit Nord Stream gemacht, was "sehr wesentlich das Verdienst Gerhard Schröders" sei. Das Engagement des Altkanzlers bei Gazprom habe sich somit als "goldrichtig" erwiesen. Euphorisch bilanziert Schöllgen: "Keine Frage, der Platz in den Geschichtsbüchern ist diesem Mann sicher." Solch starke Werturteile stehen einem Historiker frei. Von einem Wissenschaftler erwartet man allerdings, dass bei seinen Einschätzungen finanzielle Erwägungen keine Rolle spielen. An diesem Punkt allerdings gibt es Zweifel. Denn als Schöllgen mit seiner Arbeit an der Schröder-Biographie beginnt, treffen bei dem von ihm geleiteten "Zentrum für Angewandte Geschichte" Spenden ein. Das Geld stammt von der eng mit Gazprom verbündeten Wintershall. Die BASF-Tochter nimmt 2011 nämlich zwei Mal die Dienste von Schröder in Anspruch. Das eine Mal tritt Schröder als Redner auf einer Wintershall-Veranstaltung in Oslo auf, das andere Mal in Kassel. Auf Anfrage teilt das Unternehmen mit, das "in solchen Fällen oft übliche Vortragshonorar" in Höhe von 100.000 Euro sei an Schöllgens Institut geflossen. Schöllgen dementiert die Zahlung auf Anfrage nicht, antwortet jedoch ausweichend. Er geht nicht auf die Fragen ein, wofür die Gelder genau verwendet wurden und warum er sie in dem Buch an keiner Stelle erwähnt. Stattdessen behauptet er, private Drittmittel hätten auf seine Deutungen keinen Einfluss gehabt.
Im Sommer 2017 lässt Kanzlerkandidat Martin Schulz ins SPD-Wahlprogramm schreiben, das Zweiprozentziel der NATO von 2014 sei "falsch und unsinnig". Diese Haltung bietet für den Wahlkampf mehrere Vorteile: Schulz kann sich in der Tradition von Entspannungspolitik und Friedensbewegung präsentieren und vor einer neuen "Aufrüstungsspirale" warnen. In diese Strategie fügt sich auch die 2017 energisch fortgesetzte Blockade der Anschaffung von Kampfdrohnen durch die SPD. "Abrüsten statt Wettrüsten", lautet die Parole von Schulz. Mitten in den Wahlkampf von Schulz platzt allerdings die Nachricht, dass Gerhard Schröder für den Aufsichtsrat des staatlichen russischen Ölkonzerns Rosneft nominiert worden ist. Die Vergütung bei Rosneft soll bei rund 600.000 Euro pro Jahr liegen. Als Vorsitzender des Aktionärsausschusses bei Nord Stream soll Schröder 250.000 Euro jährlich erhalten haben. Hinzu kommen die umfangreichen staatlichen Leistungen für den Bundeskanzler a. D. und die Einnahmen aus seinen weiteren Tätigkeiten, deren Gesamthöhe sich schwerlich beziffern lässt. Übereinstimmend heißt es jedoch, dass sich Schröders Einkünfte spätestens mit Rosneft jährlich im siebenstelligen Bereich bewegen. "Das ist mein Leben und nicht das der deutschen Presse", verteidigt sich Schröder Ende August 2017 bei einem Wahlkampfauftritt in Hannover. Der Altkanzler wird von der niedersächsischen SPD weiter eingespannt. Auf Einladung von Yasmin Fahimi, damals Parlamentarische Staatssekretärin im Sozialministerium, ist Schröder in den Gartensaal des Hannoveraner Rathauses gekommen. Bei Schröders Auftritt werden die russlandpolitischen Implikationen und der untergründige Antiamerikanismus dieser SPD-Wahlkampagne deutlich. Aus seinem schwarzen Ledersessel heraus wettert der Altkanzler gegen die drohende "neue Aufrüstungsspirale". Wer glaube denn eigentlich, dass jemand in Europa aggressiv werde, fragt er. "Ich hoffe, die SPD ist mutig genug zu sagen: Von wem werden wir eigentlich bedroht?" Schröder behauptet, dass das Zweiprozentziel "niemals beschlossen" worden sei. Fahimi im Sessel nebenan pflichtet Schröder bei und nennt das Zweiprozentziel "totalen Wahnsinn".
Nach der Niederlage der SPD in der Bundestagswahl 2017 will Außenminister Gabriel so viel Druck erzeugen, dass der kommissarische Vorsitzende Scholz und die designierte Parteivorsitzende der SPD Nahles an ihm nicht vorbeikommen. Doch Scholz und Nahles sehen in dem unbeherrschten Mann eine Gefahr für eine funktionierende Regierung. Die Nähe zu Putin ist nicht der Grund für Gabriels Ablösung. Aber bei der Auswahl seines Nachfolgers spielt Russland durchaus eine Rolle. Nahles und Scholz wollen niemanden, der zur Schröder-Steinmeier-Gabriel-Connection gehört. Bei Heiko Maas ist das der Fall - er bekommt den Zuschlag. Die Schröder-Umgebung sieht diese Entwicklung mit größter Sorge. Für das Geschäftsmodell von Heino Wiese wäre eine Abkehr der SPD von ihrer bisherigen Russlandpolitik ein Schlag. Der russische Honorarkonsul gibt beim schrödernahen Institut Forsa eine Umfrage in Auftrag. Das Ziel besteht darin, dem negativen Russlandbild in den Leitmedien Volkes Stimme entgegenzusetzen. Die Ergebnisse dürften Wiese gefallen haben: 57 Prozent der Befragten halten Moskau für einen verlässlichen Energielieferanten, unter den SPD-Wählern sind es 64 Prozent, unter den Mitgliedern sogar 78. Die Zahlen sollen ein Wink an Scholz und Nahles sein, dass sie sich mit ihrem russlandkritischeren Kurs gegen ihre Partei stellen. Für manche führenden Sozialdemokraten ist der realistischere Umgang von Maas mit Moskau aber schon zu viel des Guten. Sie fragen sich, "ob Heiko noch einer von uns" sei, so wird es in der SPD erzählt. Druck hätten vor allem die "üblichen Verdächtigen" gemacht, erzählt ein Sozialdemokrat: die Ministerpräsidenten Stephan Weil, Manuela Schwesig und Dietmar Woidke. Ende Mai wird der Außenminister in den SPD-Vorstand vorgeladen, um sich zu rechtfertigen. Man wirft Maas vor, die Prinzipien der Ostpolitik von Willy Brandt zu verraten. Man einigt sich auf die Formel, dass man "mit Russland nicht weniger, sondern mehr Dialog" brauche. Maas wahrt das Gesicht, aber die Partei hat ihm Grenzen aufgezeigt.
Sigmar Gabriel steht nach seinem Aus als SPD-Chef und Außenminister im Sommer 2018 nahe an der politischen Bedeutungslosigkeit. Er gründet ein Beratungsunternehmen, die Firma VIB International Strategy Group. Zu den Gesellschaftern zählt neben Gabriel ein Schulfreund, mit dem der SPD-Politiker schon 2003 nach der verlorenen Landtagswahl bei der CoNeS zusammenarbeitete, die kurz nach Gabriels Ausscheiden aus dem VW-Aufsichtsrat einen Beratervertrag aus Wolfsburg erhielt. Die Adresse der VIB International Strategy Group lässt aufmerken: Die Firma residiert in der wohlbekannten Behrenstraße 73 der Wiese Consult. Heino Wiese zählt auch zum Kreis der Gesellschafter. Der vierte Kommanditist ist die 4Pro Projektmanagement- und Kommunikations GmbH. Sie gehört zu gleichen Teilen dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann von der SPÖ und seinem einstigen Sprecher. Die VIB hat große Pläne, das "Toplevel-Netzwerk" nennt als erste Kundengruppe die Energiewirtschaft. Doch die Hoffnungen erfüllen sich nicht. Faymann und sein Sprecher konzentrieren sich fortan auf ihre Immobiliengeschäfte. Gabriel steigt schon im April 2019 aus. Aus dem Umfeld der Firma ist von Differenzen mit dem ehemaligen deutschen Außenminister zu hören. Ein Grund ist möglicherweise, dass der Tausendsassa Gabriel sich keineswegs auf die VIB Strategy Group zu beschränken gedenkt. Im März 2020 wird Gabriel für Tönnies tätig, der Schweinefleisch-Konzern zahlt monatlich 10.000 Euro plus ein vierstelliges Honorar pro Reisetag. Gabriel übernimmt zudem einen Aufsichtsratsposten bei Siemens Energy, einem bedeutenden Gasturbinen-Hersteller, und zieht in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank ein. Der ehemalige SPD-Chef wird dort auf Drängen von Qatar installiert, das nicht nur Großaktionär von Volkswagen, sondern auch der Deutschen Bank ist. Ende 2019 tritt Gabriel als Redner auf der 125-Jahr-Feier von Wintershall in Kassel auf. Das Unternehmen, für dessen Interessen bei Nord Stream 2 sich der SPD-Politiker während seiner Amtszeit so nachdrücklich eingesetzt hat, bezahlt dafür 20.000 Euro an dessen Agentur. Das sei, so teilt die Firma auf Anfrage mit, "ein übliches Honorar".
wann mit eiserner faust die antikorruptionskampagne durchziehen?
Die Moskau-Connection
Gerhard Schröder hat nach seiner Kanzlerschaft weiterhin die Russlandpolitik der Bundesrepublik mitbestimmt. Der Schlüssel dazu waren seine Netzwerke in Politik und Wirtschaft sowie der SPD-Mythos Entspannungspolitik.
Von Reinhard Bingener und Markus Wehner
Der Einzug in die Niedersächsische Staatskanzlei im Sommer 1990 markiert den eigentlichen Beginn von Schröders Netzwerk. Als Ministerpräsident hat Schröder mehr Möglichkeiten als bisher, Posten zu besetzen und Karrieren zu beschleunigen. Im Umfeld des SPD-Politikers tauchen nun viele Namen auf, die später mit Schröder nach Berlin wechseln und für die deutsche Russlandpolitik wichtig werden. Brigitte Zypries übernimmt in Schröders Staatskanzlei das Referat für Verfassungsrecht. Mit Frank-Walter Steinmeier lotst Zypries zudem einen Kommilitonen aus ihrer Gießener Studienzeit nach Niedersachsen. Zypries und Steinmeier hatten in den 1980er-Jahren für die juristische Fachzeitschrift "Demokratie und Recht" gearbeitet, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Die Publikation erschien im Pahl-Rugenstein Verlag, der maßgeblich von der DDR finanziert wurde. 1990 zählt Steinmeier ebenso wie Schröder zu den Gegnern des raschen Einigungsprozesses. "Du passt zu uns", soll Schröder beim Vorstellungsgespräch zu Steinmeier gesagt haben.
Es gibt noch einen weiteren Vertrauten Schröders, der 1998 von Hannover nach Berlin wechselt. Im Unterschied zu den genannten Politikern taucht sein Name in den einschlägigen Schröder-Biographien nicht auf: Heino Wiese. Der 1952 geborene Sozialdemokrat lernt Schröder 1982 bei der berühmten Currywurst in der Gaststätte "Plümecke" kennen. Von 1990 bis 2003 übt Wiese einflussreiche Funktionen in der niedersächsischen Sozialdemokratie aus. Er ist Geschäftsführer des SPD-Bezirks Hannover und Landesgeschäftsführer der niedersächsischen SPD. Wiese kontrolliert damit die Parteizentrale in der Odeonstraße weitgehend, managt die Wahlkämpfe Schröders. Er baut sich ein einzigartig dichtes Netz innerhalb der niedersächsischen SPD auf. Im Zentrum steht nach Wieses Darlegung "das Team Gerhard Schröder" mit Steinmeier und Zypries, das man sich wie eine alte Fußballmannschaft vorstellen könne. Zum Bogen der langjährigen Wiese-Vertrauten zählen auch Sigmar Gabriel, der heutige niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil und der heutige SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil.
Auffällig in Schröders Netzwerk ist die hohe Zahl der Wechselbeziehungen, die finanziell unterlegt sind. Innerhalb dieses Netzes könnte man so vielfältige Ketten beschreiben. Heino Wiese fädelt den Einstieg des Oligarchen Alexej Mordaschow bei der vom sozialdemokratischen Manager Michael Frenzel geführten TUI ein, die wiederum die Arena des Bauunternehmers Günter Papenburg sponsert; Papenburg hält Anteile an dem Stahlunternehmen Salzgitter AG, das Schröder einst als Ministerpräsident mit Staatsgeldern Frenzels TUI-Vorläufer Preussag abkaufte und das später Röhren für das von Schröder beaufsichtigte Unternehmen Nord Stream 2 sowie andere Pipeline-Projekte des Kremls liefert, dessen Honorarkonsul in Hannover wiederum Heino Wiese ist. Und alle genannten Personen treffen sich zeitweilig in der gemeinsamen "G 6"-Loge bei Hannover 96. Blickt man auf die strukturellen Merkmale des Schröder-Netzes, so fällt die weitgehende Abwesenheit von Frauen auf. Schröders Umfeld trägt männerbündische Züge. Es besteht vorwiegend aus erfolgreichen und wohlhabenden Herren, die meist über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen. Weniger ausgeprägt sind Schamgefühle. Drückerkolonnen und Kontakte zu kriminellen Rockern gelten ebenso wenig als Zugangshindernis wie ausgeprägte Kontakte nach Iran, nach China oder nach Russland. Man trinkt miteinander. Man hilft einander.
Wladimir Putin hat 1997 seine Doktorarbeit am Bergbau-Institut in St. Petersburg abgeliefert. Interessant ist der etwas komplizierte Titel der Arbeit: "Strategische Planung bei der Nutzung der Rohstoffbasis einer Region in Zeiten der Entstehung von Marktmechanismen (St. Petersburg und Leningrader Gebiet)". In der Arbeit wird dem Export von Erdgas und Erdöl eine wichtige Rolle beigemessen, um außenpolitische Ziele durchzusetzen. Dafür allerdings müsse der Energiesektor so weit wie möglich unter staatliche Kontrolle kommen.
Im Glaubensbekenntnis der deutschen Sozialdemokraten gilt die Entspannungspolitik als Grundfeste sozialdemokratischer Außenpolitik - und Kritik an ihr als Angriff auf das Allerheiligste der Partei. Ebenso gilt das für ihre Erfinder Willy Brandt und Egon Bahr, die vor allem wegen dieser "Ostpolitik" zu Ikonen der Partei geworden sind. Mit dieser Politik werden bis heute eine ganze Reihe epochaler positiver Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts verbunden. Dazu gehört die freundschaftliche Beziehung Deutschlands zu den Nachbarn im Osten Europas, die erst dadurch möglich geworden sei. Zudem die Behauptung, ohne die Ostpolitik hätte es keine Überwindung der kommunistischen Herrschaft gegeben. Und nicht zuletzt: Ohne die Politik von Brandt und Bahr wäre die deutsche Einheit nicht zustande gekommen. Alle diese Behauptungen stimmen entweder gar nicht oder aber nur zum Teil. Wer allerdings darauf hinweist, gilt in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie leicht als Kalter Krieger. Die Ostpolitik ist bis heute der erbittert verteidigte Mythos der SPD. Ohne diesen Mythos ist ihre verfehlte Russlandpolitik der letzten zwei Jahrzehnte nicht zu verstehen.
Wie sehr die Entspannungspolitik einen repressiven Charakter gegenüber den Freiheitsbestrebungen im östlichen Europa annahm, zeigen die Reaktionen der SPD-Spitze auf die Situation in Polen Anfang der 1980er-Jahre und die Verhängung des Kriegsrechts. Egon Bahr wirft der Gewerkschaft Solidarnosc vor, den Frieden in Europa aufs Spiel zu setzen. Durch eine Destabilisierung Polens werde das Gleichgewicht der Militärblöcke von NATO und Warschauer Pakt gefährdet, befindet der Architekt der Ostpolitik. Als im Herbst 1981 die Solidarnosc durch Streiks das Machtmonopol der Kommunisten infrage stellt, wird Bahr gefragt, ob die Sowjetunion das Recht habe, in Polen einzuschreiten. "Aber selbstverständlich", antwortet er. Und Herbert Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, fordert schon im August 1981 gegenüber einem Vertrauten von SED-Chef Erich Honecker, man müsse "entschlossene Maßnahmen gegen Polen" einleiten, "je eher, desto besser". Es gehe "nicht ohne innere Gewalt, leider", so Wehner.
Die Auflösung der NATO hatte Oskar Lafontaine in der SPD schon 1983 gefordert. Egon Bahr schreibt nach dem Mauerfall, wer die staatliche Einheit fordere, "muss die Auflösung von Nato und Warschauer Pakt fordern". Im Grundsatzprogramm der SPD von 1989, das bis 2007 in Kraft ist, heißt es, Ziel sei es, "die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen". Dieses Denken ist keineswegs überwunden. Gerhard Schröder fordert noch 2021 in seinem Buch mit Gregor Schöllgen die Auflösung der NATO "in letzter Konsequenz". Europa werde sich so "aus der amerikanischen Vormundschaft lösen können". Das Urteil zu Russland fällt ganz anders aus. Für die Beziehungen nach Moskau brauche es ein stabiles Fundament: "Denn ohne ein belastbares Verhältnis zu Russland hat Europa keine Zukunft." Die Mischung aus Amerika-Skepsis und Russland-Fixiertheit, genährt durch den Mythos der Ostpolitik, führt die SPD auf einen außenpolitischen Kurs, mit dem sie die eigenen Werte von Demokratie und Menschenrechten infrage stellt.
Mitte 2004 adoptieren Schröder und seine vierte Ehefrau Doris Schröder-Köpf ein drei Jahre altes russisches Mädchen aus einem Kinderheim in St. Petersburg. Putin hat dabei geholfen, dass die Angelegenheit unbürokratisch und ohne die üblichen Schmiergelder vonstattengeht. Dass ein 60 Jahre alter, beruflich eingespannter Mann, der drei Mal geschieden ist, und seine 41 Jahre alte Ehefrau offenbar problemlos ein Kind aus dem Ausland adoptieren können, ist keinesfalls die Regel. Viele Organisationen, die sich mit Adoption beschäftigen, sagen sogar, dass das in der Praxis ausgeschlossen sei. Das Ehepaar Schröder selbst schweigt über die Details des Verfahrens. 2007, Schröder ist schon nicht mehr Kanzler, adoptieren er und Schröder-Köpf einen knapp einjährigen Jungen aus St. Petersburg. Putins "Operation Schröder" ist da schon längst über das hinausgegangen, was der russische Präsident sich sechs Jahre zuvor wohl hatte erträumen können.
Nach dem Auszug aus dem Kanzleramt nimmt sich Schröder eine Wohnung in der Behrenstraße 73 neben dem Hotel Adlon. Unter der Wohnung Schröders zieht eine neu gegründete Beratungsfirma ein: die Wiese Consult seines ehemaligen Wahlkampfmanagers Heino Wiese. Wiese wählt ein Lebensmodell, das dem von Schröder verblüffend ähnelt. Beide pendeln zwischen ihrem privaten Umfeld in Hannover und den beruflichen Angelegenheiten in Berlin, hinzu kommen häufige Abstecher nach Moskau und in andere, gerne von Autokraten geführte Länder. Die zwei Politiker leben in einer symbiotischen Beziehung, in der die Kräfteverhältnisse klar verteilt sind. Wie in der Behrenstraße 73, wo er unter Schröder wohnt, übernimmt Heino Wiese die Rolle dessen, der zum Bundeskanzler a. D. hinaufschaut. Bisweilen kippt das Verhältnis ins Unterwürfige. Eine Person, die Wiese in Berlin besuchte, erinnert sich, dass es während der Unterredung in der Behrenstraße 73 von oben durch die Decke klopfte. Offenbar wollte der Altkanzler seinem Vertrauten ein Zeichen geben. Wiese, der sich dazu auf Anfrage nicht äußert, habe das Gespräch darauf umgehend beendet und sei hinaufgeeilt.
Die Wintershall AG bestätigt auf Anfrage, dass sie Wieses Firma drei Aufträge erteilte. Wie mehrere Quellen bestätigen, hat Wiese auch für die OMV gearbeitet. Der maßgeblich vom österreichischen Staat kontrollierte Energiekonzern hat sich stark auf russisches Erdgas ausgerichtet, insbesondere seit 2015 Rainer Seele, bis dahin Chef der Wintershall AG, die Führung übernommen hat. Unter Energiemanagern gilt Seele als Mann Moskaus. Die OMV zählt auch zu den Finanziers der Pipeline Nord Stream 2.
Eine Liste der Bundesregierung über die Treffen mit Pipeline-Lobbyisten zeugt von großer Nähe zu SPD-Politikern. Gabriel trifft sich mindestens 15 Mal mit Vertretern von Gazprom und Nord Stream. Noch häufiger als mit Gazprom-Chef Miller bespricht sich der Wirtschaftsminister mit dem Nord-Stream-Chef und Putin-Vertrauten Matthias Warnig, zwischen Februar 2015 und Januar 2017 sieben Mal. Bei einem Treffen am 27. Februar 2015 ist Gerhard Schröder dabei. Nachdem Gabriel Anfang 2017 ins Auswärtige Amt gewechselt ist, trifft sich Warnig bis zum Juni noch weitere drei Mal mit dem Minister. Doch der Aktionsradius des ehemaligen Stasi-Offiziers Warnig ist nicht auf Berlin beschränkt: Mit Reinhard Silberberg, dem Ständigen Vertreter Deutschlands bei der Europäischen Union in Brüssel, kommt der Nord-Stream-Chef zwischen Ende 2015 und September 2017 fünf Mal in der belgischen Hauptstadt zusammen; im Juni 2016 gibt Silberberg ein Abendessen für Schröder und Warnig. Man kennt sich: Unter Kanzler Schröder war Silberberg von 1998 bis 2005 Leiter der Europaabteilung im Kanzleramt, von 2006 bis 2009 war er unter Steinmeier Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Von Besuchen Warnigs bei Merkel ist nichts bekannt.
Die Zuständigkeit für die historische Einordnung der Kanzlerschaft Schröders übernimmt der bekannte Geschichtswissenschaftler Gregor Schöllgen, dem Schröder von 2011 an Zugang zu seinen Papieren gewährt. Vier Jahre später legt Schöllgen, der an der Universität Erlangen ein "Zentrum für Angewandte Geschichte" aufbaut, eine 1038 Seiten lange Biographie vor. Das Buch avanciert zum Standardwerk. In seiner Beurteilung der Kanzlerschaft Schröders ist Schöllgen sehr wohlwollend. "Lobhudeleien für 35 Euro", schreibt die taz. Der Historiker verschweigt die heiklen Punkte in der Karriere Schröders nicht. Aber er ordnet sie so ein, dass an dem SPD-Politiker kaum etwas hängen bleibt. Die Kritik an Schröders Tätigkeit für Gazprom beispielsweise sei "sicher nicht haltbar", urteilt Schöllgen. Denn die baltischen Staaten und Polen hätten inzwischen ihren Frieden mit Nord Stream gemacht, was "sehr wesentlich das Verdienst Gerhard Schröders" sei. Das Engagement des Altkanzlers bei Gazprom habe sich somit als "goldrichtig" erwiesen. Euphorisch bilanziert Schöllgen: "Keine Frage, der Platz in den Geschichtsbüchern ist diesem Mann sicher." Solch starke Werturteile stehen einem Historiker frei. Von einem Wissenschaftler erwartet man allerdings, dass bei seinen Einschätzungen finanzielle Erwägungen keine Rolle spielen. An diesem Punkt allerdings gibt es Zweifel. Denn als Schöllgen mit seiner Arbeit an der Schröder-Biographie beginnt, treffen bei dem von ihm geleiteten "Zentrum für Angewandte Geschichte" Spenden ein. Das Geld stammt von der eng mit Gazprom verbündeten Wintershall. Die BASF-Tochter nimmt 2011 nämlich zwei Mal die Dienste von Schröder in Anspruch. Das eine Mal tritt Schröder als Redner auf einer Wintershall-Veranstaltung in Oslo auf, das andere Mal in Kassel. Auf Anfrage teilt das Unternehmen mit, das "in solchen Fällen oft übliche Vortragshonorar" in Höhe von 100.000 Euro sei an Schöllgens Institut geflossen. Schöllgen dementiert die Zahlung auf Anfrage nicht, antwortet jedoch ausweichend. Er geht nicht auf die Fragen ein, wofür die Gelder genau verwendet wurden und warum er sie in dem Buch an keiner Stelle erwähnt. Stattdessen behauptet er, private Drittmittel hätten auf seine Deutungen keinen Einfluss gehabt.
Im Sommer 2017 lässt Kanzlerkandidat Martin Schulz ins SPD-Wahlprogramm schreiben, das Zweiprozentziel der NATO von 2014 sei "falsch und unsinnig". Diese Haltung bietet für den Wahlkampf mehrere Vorteile: Schulz kann sich in der Tradition von Entspannungspolitik und Friedensbewegung präsentieren und vor einer neuen "Aufrüstungsspirale" warnen. In diese Strategie fügt sich auch die 2017 energisch fortgesetzte Blockade der Anschaffung von Kampfdrohnen durch die SPD. "Abrüsten statt Wettrüsten", lautet die Parole von Schulz. Mitten in den Wahlkampf von Schulz platzt allerdings die Nachricht, dass Gerhard Schröder für den Aufsichtsrat des staatlichen russischen Ölkonzerns Rosneft nominiert worden ist. Die Vergütung bei Rosneft soll bei rund 600.000 Euro pro Jahr liegen. Als Vorsitzender des Aktionärsausschusses bei Nord Stream soll Schröder 250.000 Euro jährlich erhalten haben. Hinzu kommen die umfangreichen staatlichen Leistungen für den Bundeskanzler a. D. und die Einnahmen aus seinen weiteren Tätigkeiten, deren Gesamthöhe sich schwerlich beziffern lässt. Übereinstimmend heißt es jedoch, dass sich Schröders Einkünfte spätestens mit Rosneft jährlich im siebenstelligen Bereich bewegen. "Das ist mein Leben und nicht das der deutschen Presse", verteidigt sich Schröder Ende August 2017 bei einem Wahlkampfauftritt in Hannover. Der Altkanzler wird von der niedersächsischen SPD weiter eingespannt. Auf Einladung von Yasmin Fahimi, damals Parlamentarische Staatssekretärin im Sozialministerium, ist Schröder in den Gartensaal des Hannoveraner Rathauses gekommen. Bei Schröders Auftritt werden die russlandpolitischen Implikationen und der untergründige Antiamerikanismus dieser SPD-Wahlkampagne deutlich. Aus seinem schwarzen Ledersessel heraus wettert der Altkanzler gegen die drohende "neue Aufrüstungsspirale". Wer glaube denn eigentlich, dass jemand in Europa aggressiv werde, fragt er. "Ich hoffe, die SPD ist mutig genug zu sagen: Von wem werden wir eigentlich bedroht?" Schröder behauptet, dass das Zweiprozentziel "niemals beschlossen" worden sei. Fahimi im Sessel nebenan pflichtet Schröder bei und nennt das Zweiprozentziel "totalen Wahnsinn".
Nach der Niederlage der SPD in der Bundestagswahl 2017 will Außenminister Gabriel so viel Druck erzeugen, dass der kommissarische Vorsitzende Scholz und die designierte Parteivorsitzende der SPD Nahles an ihm nicht vorbeikommen. Doch Scholz und Nahles sehen in dem unbeherrschten Mann eine Gefahr für eine funktionierende Regierung. Die Nähe zu Putin ist nicht der Grund für Gabriels Ablösung. Aber bei der Auswahl seines Nachfolgers spielt Russland durchaus eine Rolle. Nahles und Scholz wollen niemanden, der zur Schröder-Steinmeier-Gabriel-Connection gehört. Bei Heiko Maas ist das der Fall - er bekommt den Zuschlag. Die Schröder-Umgebung sieht diese Entwicklung mit größter Sorge. Für das Geschäftsmodell von Heino Wiese wäre eine Abkehr der SPD von ihrer bisherigen Russlandpolitik ein Schlag. Der russische Honorarkonsul gibt beim schrödernahen Institut Forsa eine Umfrage in Auftrag. Das Ziel besteht darin, dem negativen Russlandbild in den Leitmedien Volkes Stimme entgegenzusetzen. Die Ergebnisse dürften Wiese gefallen haben: 57 Prozent der Befragten halten Moskau für einen verlässlichen Energielieferanten, unter den SPD-Wählern sind es 64 Prozent, unter den Mitgliedern sogar 78. Die Zahlen sollen ein Wink an Scholz und Nahles sein, dass sie sich mit ihrem russlandkritischeren Kurs gegen ihre Partei stellen. Für manche führenden Sozialdemokraten ist der realistischere Umgang von Maas mit Moskau aber schon zu viel des Guten. Sie fragen sich, "ob Heiko noch einer von uns" sei, so wird es in der SPD erzählt. Druck hätten vor allem die "üblichen Verdächtigen" gemacht, erzählt ein Sozialdemokrat: die Ministerpräsidenten Stephan Weil, Manuela Schwesig und Dietmar Woidke. Ende Mai wird der Außenminister in den SPD-Vorstand vorgeladen, um sich zu rechtfertigen. Man wirft Maas vor, die Prinzipien der Ostpolitik von Willy Brandt zu verraten. Man einigt sich auf die Formel, dass man "mit Russland nicht weniger, sondern mehr Dialog" brauche. Maas wahrt das Gesicht, aber die Partei hat ihm Grenzen aufgezeigt.
Sigmar Gabriel steht nach seinem Aus als SPD-Chef und Außenminister im Sommer 2018 nahe an der politischen Bedeutungslosigkeit. Er gründet ein Beratungsunternehmen, die Firma VIB International Strategy Group. Zu den Gesellschaftern zählt neben Gabriel ein Schulfreund, mit dem der SPD-Politiker schon 2003 nach der verlorenen Landtagswahl bei der CoNeS zusammenarbeitete, die kurz nach Gabriels Ausscheiden aus dem VW-Aufsichtsrat einen Beratervertrag aus Wolfsburg erhielt. Die Adresse der VIB International Strategy Group lässt aufmerken: Die Firma residiert in der wohlbekannten Behrenstraße 73 der Wiese Consult. Heino Wiese zählt auch zum Kreis der Gesellschafter. Der vierte Kommanditist ist die 4Pro Projektmanagement- und Kommunikations GmbH. Sie gehört zu gleichen Teilen dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann von der SPÖ und seinem einstigen Sprecher. Die VIB hat große Pläne, das "Toplevel-Netzwerk" nennt als erste Kundengruppe die Energiewirtschaft. Doch die Hoffnungen erfüllen sich nicht. Faymann und sein Sprecher konzentrieren sich fortan auf ihre Immobiliengeschäfte. Gabriel steigt schon im April 2019 aus. Aus dem Umfeld der Firma ist von Differenzen mit dem ehemaligen deutschen Außenminister zu hören. Ein Grund ist möglicherweise, dass der Tausendsassa Gabriel sich keineswegs auf die VIB Strategy Group zu beschränken gedenkt. Im März 2020 wird Gabriel für Tönnies tätig, der Schweinefleisch-Konzern zahlt monatlich 10.000 Euro plus ein vierstelliges Honorar pro Reisetag. Gabriel übernimmt zudem einen Aufsichtsratsposten bei Siemens Energy, einem bedeutenden Gasturbinen-Hersteller, und zieht in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank ein. Der ehemalige SPD-Chef wird dort auf Drängen von Qatar installiert, das nicht nur Großaktionär von Volkswagen, sondern auch der Deutschen Bank ist. Ende 2019 tritt Gabriel als Redner auf der 125-Jahr-Feier von Wintershall in Kassel auf. Das Unternehmen, für dessen Interessen bei Nord Stream 2 sich der SPD-Politiker während seiner Amtszeit so nachdrücklich eingesetzt hat, bezahlt dafür 20.000 Euro an dessen Agentur. Das sei, so teilt die Firma auf Anfrage mit, "ein übliches Honorar".