DSDE Lesezirkel IX - Auslöschung. Ein Zerfall (Thomas Bernhard)

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    • kommentar zu @roflgrins
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      roflgrins schrieb:

      Während ich ihn bis dahin noch unterhaltsam fand, wurde er gegen Ende für mich dann doch naturgemäß eher der fürchterlichste, hatte ich auf dem Pincio zu Gambetti gesagt, dachte ich jetzt. Vor allem die wiederholten kursiv gedruckten Ausdrücke haben sich aber gefühlt auch in der zweiten Hälfte noch mehr angehäuft. Und das sprunghafte Assoziieren zwischen verschiedensten Thematiken fühlte sich im Monolog aus Teil 1 auch deutlich organischer an. Klar, man erfährt dadurch am eigenen Leibe wie unerträglich das Murau'sche Dasein gewesen sein muss, aber nervig ist es auf Dauer dennoch wenn permanent ohne Vorwarnung zwischen Handlungen und Gedanken hin und her gesprungen wird.
      Du solltest dir bewusst werden, dass er selber schreibt, in Wolfsegg wie gelähmt zu agieren, aus Wolfsegg unter größter Anspannung zurückzukehren, es ihm also offensichtlich nicht gut dort geht und er sich oft aufregt. Während er alles in Rom plant und wie gewünscht abläuft, ist er hier den Menschen ausgesetzt, die er gar nicht dort haben möchte, seinen Kindheitserinnerungen und dem Begräbnis (dessen Ablauf ihm ebenfalls missfällt).
      Durch das Begräbnis ist das organische völlig verloren, was aber völlig naturgemäß ist, da er mit allerlei Situationen konfrontiert wird, die er nicht auf seine ihm bevorzugte Art erledigen kann, insbesondere nicht in einem ihm angemessenen zeitlichen Ablauf. Die Handlung springt dadurch natürlich hin und her, weil Murau versucht mit der ungewollten Situation fertig zu werden, was ihm auch gelingt, außer dass er nicht schläft, was kein großes Ding ist. Am Tag des Begräbnisses kommentiert er ja nur noch die Personen durch, um sie gruppiert oder einzeln auszulöschen.

      roflgrins schrieb:

      Aber gut, kommen wir nun zum Inhalt. Auch hier war ich wiederum vom zweiten Teil noch weniger angetan als vom ersten. Nicht endende mentale Schimpftiraden sind mir ja schon nicht gerade sympathisch, aber wenn man sich dann auch noch im tatsächlichen Kontakt mit den zuvor mental beschimpften Menschen permanent wie ein Arsch verhält, macht das alles Vorangegangene nur noch schlimmer.
      Wo er sich wie ein Arsch verhält, müsstest du noch genauer beschreiben. Ich sehe seine Gedanken rein analytisch und seine Aktionen sind vielleicht weird, aber er verhält sich nicht bösartig.

      roflgrins schrieb:

      Und die ganze Idee der Auslöschung erscheint mir komplett absurd. Wenn ein Mensch über Jahrzehnte jeden Tag an all die fürchterlichen Leute denkt, die über die Jahre sein Leben bestimmt haben und an die fürchterlichen gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit und das anscheinend darüberhinaus auch noch zu seinem Lieblingsgesprächsthema macht, wie soll man dann daran glauben, dass eine solche Niederschrift wie diese Auslöschung das ganze beenden können oder auch nur irgendwas Vorteilhaftes für Murau bewirken sollte? Ich könnte mich damit ja gerne zufrieden geben wenn Murau diese Gedanken erst nach Erhalt des Telegramms zum ersten Mal richtig verfolgt hätte und ihm dabei alles Mögliche aufgegangen wäre, das ihm vorher nicht bewusst war. In dem Falle wäre es sicherlich ein guter therapeutischer Ansatz gewesen, all das aufzuschreiben. Aber so macht es für mich lediglich den Anschein von erneuter mentaler Masturbation während er sich weiterhin als Mensch im Kreis dreht, bzw. drehen würde wenn er nicht direkt danach gestorben wäre. Daran ändern auch weder die Selbstkritik in seinen Gedanken noch seine Übertreibungskunst besonders viel.
      Jeden Tag hat er ja nicht darüber nachgedacht, wenn es im Buch stand, muss man es noch in Angesicht der Übertreibungskunst betrachten (wird dich sicherlich wieder chucklen lassen). Dann fehlt dir einfach die "psychologische Tiefe". Du hast doch auch etwa 3 Jahre Informatik studiert und das war eine reine Unwissensentscheidung, ohne mentalen Ballast, ohne psychologische und philosophische Probleme. Hier geht es um die gesamte Kindheit, die eine einzige Tortur für ihn war, nicht nur aus objektiven Gründen, sondern auch mit seinem Charakter zusammenhängende Probleme. Diese arbeitet er seit Jahren auf und es kulminiert, nachdem er Alleinerbe für Wolfsegg wird, in der Auslöschung, die ästhetisch am großartigsten ist, weil er eben nicht nur mental abschließen kann, indem er der Herr über Wolfsegg ist und sich alle Abläufe und Vorgehensweisen aussuchen kann, sondern auch den gesamten Schauplatz der Probleme einem für ihn gutnützigem Zweck schenken kann, was in seinem Kopf den gesamten Schauplatz vernichtet, da die jahrhundertelange Maschinerie von Wolfsegg damit beendet wird.

      Das ständige Denken dient dem Einordnen, dem Ordnen seiner Gedanken. Bezeichnend dafür auch der Moment in der Kindervilla, als er sagt er habe seine Kindheit ausgenutzt und sie zu Ende ausgenutzt, was sich für mich liest, dass er nicht mehr emotional in der Nostalgie der Kindheit schwebt, sondern es nicht mehr funktioniert, in diesem Moment hat er sie akzeptiert und folgerichtig macht die Renovierung der Kindervilla keinen Sinn mehr, weitergehend machen Veränderungen in Wolfsegg keinen Sinn mehr und er kommt zu einer gedankenabschließender Erkenntnis, genau wie du es wünschst. Hätte er sich weiter in Wolfsegg aufgehalten und versucht etwas daraus zu machen, was es womöglich gar nicht ist oder werden kann, dann hätte er sich wahrscheinlich selber vernichtet.

      roflgrins schrieb:

      Also zusammenfassend fehlt es mir an jeglichem Glauben daran, dass eine solche Auslöschung auch nur annähernd das bewirken kann, was @elephantTalk in seinem letzten Post versucht hat zu erklären. Wir wissen auch nicht ob das tatsächlich Bernhards Idee war, denn wir wissen ja nicht wie es Murau nach der Fertigstellung ging. Aber sollte das tatsächlich so von Bernhard angedacht sein worden, würde ich gerne Bullshit callen. Wenn das Denken sowie das Niederschreiben des Gedachten alleine einen Ausweg aus der Steppenwölfigkeit ermöglichen würden, dann gäbe es nicht so viele Steppenwölfe. Und falls Bernhard das doch nicht implizieren wollte, dann kehre ich zurück zu meinem Zwischenfazit von vor 10 Tagen.
      Immer diese Steppenwolfvergleiche. Der Steppenwolf ist, soweit ich mich erinnere (man möge mich korrigieren), jemand der in die Gesellschaft zurück möchte bzw. die Welt als solches akzeptieren. Das ist bei einem Menschen wie Bernhard nicht der Fall. Das liegt aber nicht daran, dass er ein Menschenfeind ist (siehe Gambetti, Maria etc.) sondern dass er sich selber gegenüber höchstkritisch und höchstanalytisch vorgeht und das, zumindest passiv durch seine Literatur, auch von mir fordert.

      Dadurch dass ich denke, dass es ihm gelungen ist (s.o.), denke ich, dass er mit den Problemen auf diese Weise, wenn auch womöglich nur temporär, fertig wird und damit eine Existenz, die seiner Lebensweise entspricht, führt. Ich denke, dass du zu oft davon ausgehst, das eine in sich geschlossene richtige Lebensweise für jede Person anwendbar ist (z.B. buddhistische Lehre, die ich ja auch für mich als potentiell passend ansehen würde).


      @dota23 streamer schon durch? gleiche gedanken wie aaron?
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      twoplay schrieb:

      Du solltest dir bewusst werden, dass er selber schreibt, in Wolfsegg wie gelähmt zu agieren, aus Wolfsegg unter größter Anspannung zurückzukehren, es ihm also offensichtlich nicht gut dort geht und er sich oft aufregt. Während er alles in Rom plant und wie gewünscht abläuft, ist er hier den Menschen ausgesetzt, die er gar nicht dort haben möchte, seinen Kindheitserinnerungen und dem Begräbnis (dessen Ablauf ihm ebenfalls missfällt).
      Durch das Begräbnis ist das organische völlig verloren, was aber völlig naturgemäß ist, da er mit allerlei Situationen konfrontiert wird, die er nicht auf seine ihm bevorzugte Art erledigen kann, insbesondere nicht in einem ihm angemessenen zeitlichen Ablauf. Die Handlung springt dadurch natürlich hin und her, weil Murau versucht mit der ungewollten Situation fertig zu werden, was ihm auch gelingt, außer dass er nicht schläft, was kein großes Ding ist. Am Tag des Begräbnisses kommentiert er ja nur noch die Personen durch, um sie gruppiert oder einzeln auszulöschen.
      Jo das war wie gesagt keine inhaltliche Kritik und ich hab auch nachvollziehen können warum es so ist, war nur ein subjektiver Kommentar meinerseits bezüglich des Lesegenusses.

      twoplay schrieb:

      Wo er sich wie ein Arsch verhält, müsstest du noch genauer beschreiben. Ich sehe seine Gedanken rein analytisch und seine Aktionen sind vielleicht weird, aber er verhält sich nicht bösartig.
      Arsch war vielleicht ein wenig übertrieben, glaube das hab ich hauptsächlich wegen der Szene geschrieben in der er den Schwager beim Zeitunglesen beobachtet und sich ausmalt, wie er das seiner Schwester berichten wird. Zugegeben, wir wissen nicht ob er das dann auch wirklich getan hat, aber das kann man imo schon bösartig nennen.

      Ansonsten ist es eher dieses völlige Entziehen aus jeglicher Verantwortung was ich ziemlich unsympathisch fand. Er versteckt sich in seinem Zimmer, lässt die Schwestern alles machen, ist gleichzeitig dann aber unzufrieden damit wie alles abläuft und gibt dann noch seine abfälligen Kommentare ab. Generell sind immer alle anderen an allem schuld und sie haben ja alle nur eine Abneigung gegen ihn weil er ihnen geistig überlegen ist.

      twoplay schrieb:

      Jeden Tag hat er ja nicht darüber nachgedacht, wenn es im Buch stand, muss man es noch in Angesicht der Übertreibungskunst betrachten (wird dich sicherlich wieder chucklen lassen). Dann fehlt dir einfach die "psychologische Tiefe". Du hast doch auch etwa 3 Jahre Informatik studiert und das war eine reine Unwissensentscheidung, ohne mentalen Ballast, ohne psychologische und philosophische Probleme. Hier geht es um die gesamte Kindheit, die eine einzige Tortur für ihn war, nicht nur aus objektiven Gründen, sondern auch mit seinem Charakter zusammenhängende Probleme. Diese arbeitet er seit Jahren auf und es kulminiert, nachdem er Alleinerbe für Wolfsegg wird, in der Auslöschung, die ästhetisch am großartigsten ist, weil er eben nicht nur mental abschließen kann, indem er der Herr über Wolfsegg ist und sich alle Abläufe und Vorgehensweisen aussuchen kann, sondern auch den gesamten Schauplatz der Probleme einem für ihn gutnützigem Zweck schenken kann, was in seinem Kopf den gesamten Schauplatz vernichtet, da die jahrhundertelange Maschinerie von Wolfsegg damit beendet wird.

      Das ständige Denken dient dem Einordnen, dem Ordnen seiner Gedanken. Bezeichnend dafür auch der Moment in der Kindervilla, als er sagt er habe seine Kindheit ausgenutzt und sie zu Ende ausgenutzt, was sich für mich liest, dass er nicht mehr emotional in der Nostalgie der Kindheit schwebt, sondern es nicht mehr funktioniert, in diesem Moment hat er sie akzeptiert und folgerichtig macht die Renovierung der Kindervilla keinen Sinn mehr, weitergehend machen Veränderungen in Wolfsegg keinen Sinn mehr und er kommt zu einer gedankenabschließender Erkenntnis, genau wie du es wünschst. Hätte er sich weiter in Wolfsegg aufgehalten und versucht etwas daraus zu machen, was es womöglich gar nicht ist oder werden kann, dann hätte er sich wahrscheinlich selber vernichtet.
      Ich kann mich da eigentlich nur wiederholen, ich hab da keine wirkliche Entwicklung, geschweige denn einen Abschluss in seinen Gedanken erkennen können. Gerade weil er ja auch immer wieder beim Monologisieren auf bereits durchgedachte Dinge zurückkommt, über die er in der Vergangenheit bereits mit Gambetti oder jemand anderem gesprochen hat. Daher wirkt das für mich alles extrem so als würde er sich nach wie vor im Kreis drehen. Aber gut, vielleicht schätze ich das auch einfach völlig falsch ein, kann schon sein.

      twoplay schrieb:

      Immer diese Steppenwolfvergleiche. Der Steppenwolf ist, soweit ich mich erinnere (man möge mich korrigieren), jemand der in die Gesellschaft zurück möchte bzw. die Welt als solches akzeptieren. Das ist bei einem Menschen wie Bernhard nicht der Fall. Das liegt aber nicht daran, dass er ein Menschenfeind ist (siehe Gambetti, Maria etc.) sondern dass er sich selber gegenüber höchstkritisch und höchstanalytisch vorgeht und das, zumindest passiv durch seine Literatur, auch von mir fordert.

      Dadurch dass ich denke, dass es ihm gelungen ist (s.o.), denke ich, dass er mit den Problemen auf diese Weise, wenn auch womöglich nur temporär, fertig wird und damit eine Existenz, die seiner Lebensweise entspricht, führt. Ich denke, dass du zu oft davon ausgehst, das eine in sich geschlossene richtige Lebensweise für jede Person anwendbar ist (z.B. buddhistische Lehre, die ich ja auch für mich als potentiell passend ansehen würde).
      Naja, der Steppenwolfvergleich bietet sich einfach extrem an. Murau und Haller sind beide um die fünfzig, super verkopfte resignierte Herren die sich vom Rest der in ihren Augen primitiven Bevölkerung unverstanden fühlen und sich für etwas besseres halten. Daraus resultieren sehr isolierte Lebensstile mit großem Fokus auf Literatur bzw. generell "intellektuellen Anspruch" oder wie auch immer man es nennen möchte. Beide sind folgerichtig sehr unglücklich, haben mit gesundheitlichen Problemen auf Grund ihres Lebensstils zu schaffen, werden dauernd von negativen Gedanken geplagt, denken daher sogar gelegentlich an Selbstmord und chronische Schlafprobleme dürfen natürlich auch nicht fehlen.

      Nun, dein letzter Satz ist glaube ich sehr treffend. Wenn ich etwas über einen unglücklichen Menschen lese, überlege ich mir was in meinen Augen sinnvolle Ansätze wären, da raus zu kommen. Und der Steppenwolfansatz, also von seinem hohen Ross herunterzukommen (bzw. heruntergezogen werden) und auch Spaß am normalen "primitiven" Leben abseits von irgendwelchen intellektuellen Scheinwelten zu finden, funktioniert in der Hinsicht erfahrungsgemäß nun mal ziemlich gut. Sich dagegen immer weiter in das bereits bestehende Extrem hineinzusteigern und noch genauer die Punkte herauszuarbeiten, in denen man sich von allen anderen absetzt und die diese tatsächlich verachtungswürdig machen, etc., klingt für mich nach keinem so guten Ansatz weil ich damit weder selbst gute Erfahrungen gemacht habe, noch jemals von anderen gehört habe dass sie damit gute Erfahrungen gemacht hätten. Vielleicht hast du da einfach einen anderen Erfahrungsschatz als ich oder vielleicht ist dir auch sowas wie "Prinzipientreue" oder so viel wichtiger als das Glücklichsein und daher haben wir in dem Punkt völlig unterschiedliche Perspektiven, nicht sicher.

      Auf jeden Fall hat Muraus nun mal Entwicklung dazu geführt, dass er sich abseits von seiner ständigen Vergangenheitsbewältigung immer noch mehr von allem anderen als den intellektuellen Diskursen mit seinen wenigen ähnlichgesinnten Freunden abgewandt hat. Während wir nämlich zuerst noch erfahren, dass er sich in seiner Kindheit mit der einfachen Bevölkerung, also z.B. den Gärtnern, den Küchenmädchen oder den Leuten aus dem Dorf, immer gut verstanden haben und seine Abneigung sich da hauptsächlich gegen die Seinigen gerichtet hat, gibt er im weiteren Verlauf zu, dass er mit diesen Leuten mittlerweile auch überhaupt kein wirkliches Gespräch mehr führen kann. Also wie nun schon viel zu oft gesagt: er katapultiert sich in meinen Augen immer weiter in eine soziale Sackgasse ohne Aussicht auf irgendwelche positive Entwicklungen. Und jetzt wird bestimmt dein Einwand kommen, dass er das ja auch gar nicht will. Wer weiß, vielleicht könnte er auch wirklich auf einmal glücklich werden nachdem er mit Wolfsegg abgeschlossen hat, auch wenn er sich nach wie vor nur mit Gambetti, Maria, Zacchi und Spadolini in seinem Elfenbeinturm verkriecht. Aber meinem Gefühl nach würde er sich wohl eher auch weiterhin regelmäßig in irgendwelchen absurden Theorien verlieren wie der Unterdrückung der Menschheit durch die Leitzordner, der Verdummung der Menschheit wegen welcher man sich lieber rechtzeitig selbst umbringen sollte, o.ä.
    • @roflgrins
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      Ich kann deine Meinung zwar gut verstehen (kenne dich ja schließlich auch persönlich), aber sehe darin keine tatsächlichen Kritikpunkte. Deine Abneigung wurzelt doch im Grunde darin, dass du Muraus Charakter (allgemeiner noch vielleicht Berhards Charakter) unsympathisch oder sogar abstoßend findest und den Sprachstil als quälende Tortur wahrnimmst, woraus dann eben einige (ich nenne sie jetzt einfach frech) Irrtümer sprießen.
      Zunächst weise ich nochmals auf die übergeordnete Struktur hin: Die Auslöschung ist Muraus rein persönliche Niederschrift seiner eigensten unweigerlichen Empfindungen und Gedanken seine Heimat und die letzlich gelungene Loslösung davon betreffend, allein zum Zwecke des geistigen Abschlusses und inneren Friedens. Ich sehe nicht, wo du ihm für das allerehrlichste Offenlegen seines Wesens Bößartigkeit unterschieben kannst und ihn als Angreifer und Aggressor wahrnimmst. Natürlich ist sein Verhältnis zu seiner Familie von Abscheu und Verachtung gekennzeichnet; diese jedoch stammt aus der unfreiwilligen lebenslänglichen Verbindung (zusammen mit der ebenfalls unfreiwilligen und lebenslänglichen Gegebenheit seines Wesens als damit gänzlich inkompatiblem), die er eben erst mit der Fertigstellung der Auslöschung und dem letzlichen Verkauf von Wolfsegg endgültig auftrennen kann (Ist das etwa keine Entwicklung, kein Abschluss für dich?). Er gesteht sich nicht den einfachsten Weg zu, das Gewesene einfach im Vergessen zu begraben, weil gerade die ignorante Geschichtslosigkeit ihm das allerwiderwärtigste ist, die chronische Krankheit Österreichs und der Inbegriff der Charakter- und Rückgratlosigkeit.
      Du kreidest ihm an, keine Verantwortung beim Begräbnis zu übernehmen, was aber doch unschwer nachzuvollziehen ist, wenn er für zeitlebens feindlich Gesinnte eine dekadentes Schauspiel aufführen, sich dabei den Gepflogenheiten einer ihm verhassten Gesellschaft beugen soll und zuletzt noch unverschämt zur Selbstleugnung gezwungen wird, indem von ihm erwartet wird den Nazis freundlich die Hände zu schütteln. Ja, er stellt sich als Opfer dar, aber damit gibt er nicht sogleich den anderen Schuld; es ist absolut unweigerlich, sich selbst und sein Leben beschreibend als Opfer darzustehen, da jeder unausgenommen Opfer seiner Existenz, seines Daseins und Wesens ist. Diesen unausweichlichen Widerstreit mit sich selbst und allem konfrontiert er unverblümt, auf offenem Felde sozusagen, um daran zu wachsen und die Kraft zu erlangen, dem überhaupt erst standhalten zu können. Ja, diese Sicht der Dinge widerstrebt dir wohl (obschon es ja auch im Buddhismus heißt, das Leben sei schlechthin Leiden), aber gerade das sollte es doch auch umso interessanter machen: einmal einen völlig entgegengesetzten Standpunkt einzunehmen. Dass du das als unglaubwürdig bezeichnest, kann ich am allerwenigsten nachvollziehen; Bernhard lügt dich doch nicht an oder versucht dich mit falschen Ratschlägen in die Irre zu führen. Als weitere Beschwichtigung kann ich dir aber auch sagen, dass, aus meinem Erfahrungsschatz genommen, Bernahrds Darstellungen exakt die Wirklichkeit einfangen, während ich viel eher den Steppenwolf (in polemischen Stunden) als Humbug schelten würde (will dem mir im Grunde unpassenden Steppenwolfvergleich damit aber auch beiseite legen).
      Der letzte, aber wahrscheinlich am tiefsten greifende Punkt deines Unverständnisses ist nun das Sprachliche. Wenn du sagst, es sei dir naturgemäß das Fürchterlichste und du erfahrest dabei die Unerträglichkeit des Murau'schen Daseins, dann bist du streng genommen an der gesamten Thematik oder überhaupt Bernhards Schaffen schon vorbei, wobei du mit mentaler Masturbation unversehens am nähesten liegst. Das ganze Buch ist durchtränkt von unsäglicher Komik und ja, durchaus von Selbstbefriedigung, was eben den ursprünglichsten Sinn der Niederschrift erst ausmacht. Bernhard zu lesen ist die äußerste Freude und innerste Genugtuung, so wie sie beim Schreiben eine noch unschätzbar größere ist; das würde ich dir ebenfalls aus eigener Erfahrung heraus genau so beschreiben. Du hast darin tatsächlich das komplett Entgegengesetzte wahrgenommen, was dir zwar freisteht, aber die Auslöschung (zumindest für dich) in ein gänzlich falsches Licht stellt. Ich sage, der Schreibstil Bernhards ist naturgemäß der allerseligste, der mich am eigenen Leibe erfahren lässt, welche innigste Genugtuung, Befriedigung und Befreiung mit der Niederschrift der Auslöschung einherging.

      Noch eine kurze direkte Antwort:

      roflgrins schrieb:

      Also zusammenfassend fehlt es mir an jeglichem Glauben daran, dass eine solche Auslöschung auch nur annähernd das bewirken kann, was @elephantTalk in seinem letzten Post versucht hat zu erklären. Wir wissen auch nicht ob das tatsächlich Bernhards Idee war, denn wir wissen ja nicht wie es Murau nach der Fertigstellung ging. Aber sollte das tatsächlich so von Bernhard angedacht sein worden, würde ich gerne Bullshit callen. Wenn das Denken sowie das Niederschreiben des Gedachten alleine einen Ausweg aus der Steppenwölfigkeit ermöglichen würden, dann gäbe es nicht so viele Steppenwölfe.
      Deinen Unglauben konnte ich ja vielleicht mit obiger Ausführung etwas abschwächen; zum Weiteren traue ich mir durchaus zu, zu wissen, dass das Bernhards Idee war, weil das doch die unterste, offensichtliche Handlungsebene darstellt (kein Flame an dich natürlch) und in Einklang steht mit allem was Bernhard zeitlebens geschrieben und gesagt hat. Wie in meinem ersten Post bereits gesagt, enthält die Auslöschung im Grunde auch keine neuen Gedanken, sondern ist mehr eine geordnete Zusammenfassung oder ein Querschnitt seines Denkens. Das ist aber wohl nur so offensichtlich, wenn man Bernhard(s Leben) gut kennt.
      Zur Steppenwölfigkeit will ich eigentlich nichts mehr sagen, außer, dass es mit der Murauigkeit wenig bis gar nichts gemein hat, wie Hesse mit Bernhard noch viel weniger gemein hat. Dass du den beschriebenen Ausweg so lapidar hinstellst, tut der Sache ebenfalls unrecht: Er ist nicht der einfache Weg, sondern der allerbeschwerlichste, der in höchstem Maße Integrität und Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber erfordert, ganz davon abgesehen, dass man zu dieser Einsicht auch erstmal selbst gelangen muss, da es (wie du selbst ja ein Beispiel dafür darstellst) nicht ausreicht, es nur vor Augen geführt zu bekommen.
      Zuletzt will ich noch deutlich klarstellen, dass Bernhard keine Selbsthilfebücher schreibt. Darin liegt die gröbste Unzulänglichkeit im Vergleich mit Hesse, der das immer wieder auf das Offensichtlichste gemacht hat. Bernhard sagt mit keinem Wort, man solle doch das und jenes machen um glücklich zu sein oder werden; er beschreibt allein seinen Standpunkt, seine Perspektive auf die Frage der Existenz. Man liest in der Auslöschung die Gedanken eines äußerst speziellen Charakters, der aber doch die Kernfragen des Daseins zum Vorschein bringt, von denen man nun mitnehmen kann, so viel man will.


      Wie sieht es eigentlich bei dir aus, @THC-Veraechter?
      Ein paar Gedanken von dir, könnten die Diskussion doch gut ausbalancieren, denke ich.

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von elephantTalk ()

    • Sorry dass ich bisher noch nicht auf den letzten Post reagiert hatte @elephantTalk, wollte mir das für ne ruhige Minute aufheben. Jetzt wo ich ihn gelesen habe weiß ich aber auch nicht so wirklich, ob wir da überhaupt noch weiter diskutieren müssen. Ich denke wir können nun beide ganz gut die jeweils entgegengesetzte Sichtweise nachvollziehen, ohne sie selbst fühlen zu können. Es war schon in Ordnung, mal einen entgegengesetzten Standpunkt dieser Art einzunehmen und ich bereue es nicht, das Buch gelesen zu haben. Ist auch eigentlich ganz cool mal so ne komplett unterschiedliche Meinung wie du und twoplay zu haben und das ein wenig auszudiskutieren. Mich hätte daher ja schon auch sehr interessiert, was ein paar der anderen üblichen Verdächtigen zu dem Buch zu sagen hätten, ein bisschen schade dass wir so wenige waren diesmal.

      @THC-Veraechter @dota23 streamer habt ihr noch Lust, zumindest kurz zu sagen ob ihr euch grob einem der beiden entgegengesetzten Lager zuordnen könntet oder das ganze vielleicht doch komplett anders aufgefasst zu haben?
    • Knapp vor der Fertigstellung von BER nun auch meine ersten Gedanken zu Auslöschung.
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      Zuerst zu meinem persönlichen Leseerlebnis:

      Ich habe bis davor noch nichts von Bernhard gelesen, wusste nur, dass er ein "Österreichhasser" und komplexere Literatur schreibt, dementsprechend hatte ich mich auch schon darauf vorbereitet, dass das Buch schwierig zu lesen sein wird.

      Daher war ich auch sehr angenehm überrascht, als ich die ersten Seiten gelesen und für sehr angenehm, teilweise sogar sehr witzig empfunden habe. Bernhard hat einen einzigartigen Schreibstil, der es schafft trotz fehlender Absätze, häufigen Wiederholungen, langen Schachtelsätzen usw. sehr gut lesbar zu sein. Er scheint gerade die von ihm selbst (bzw. Murau) beklagte Schwerfälligkeit der deutschen Sprache bewusst einzusetzen und erschafft aus ihre eine eigene Satzmelodie. Als jemand der selbst sich hin- und wieder am Schreiben versucht, nötigt mir alleine das schon sehr viel Respekt ab.
      Inhaltlichist das Buch natürlich in aller erste Linie eine sehr große Polemik Murnaus gegen Wolfsegg und alles was dazugehört. Generell lese ich gerne Polemiken, nur zog sich diese im ersten Teil dann doch sehr in die Länge, da sehr monothematisch und ohne dass eine äußere Handlung stattfindet. Deswegen war ich auch ganz froh, als der zweite Teil begann, habe da aber dann schnell denselben Eindruck wie roflgrins. Murnaus Umgang mit den Menschen in Wolfsegg war mir zutiefst unsympathisch, bis ich realisiert habe, dass er da an seinen eigenen Limitierungen scheitert. Er muss nicht nur zum zweiten innerhalb von kürzester Zeit an den Ort zurück, den er eigentlich Auslöschen möchte, sondern ist jetzt dort auch noch zum Patriarch aufgestiegen, eine Rolle die er nie ausfüllen wollte und auch nicht ausfüllen kann. Deswegen ist er nicht nur unfähig mit seinen verhassten Schwestern und den Trauergästen (die er entweder nicht mag oder/und sich sogar vor ihenen fürchtet) umzugehen, sondern scheitert auch im Umgang mit den „einfachen“ Menschen, wie z.B. der Köchin oder den Gärtnern, mit welchen er noch früher ein sehr gutes Verhältnis hatte.
      Trotzdem wird durch Murnaus Verhalten das Buch nochmal schwerer zu lesen, weswegen ich mich auch zeitweise durch den zweiten Teil etwas quälen musste.
      Ansonsten bin ich bei der Diskussion eher bei Etalk. Ich glaube man kann Auslöschung und den Steppenwolf nicht vergleichen, das sind zwei grundverschiedene Bücher. Murnaus Weg sich mit seiner Vergangenheit und den eigenen Eltern auseinanderzusetzen ist sein ganz eigener, den er sicherlich nicht jemand anderen Empfehlen würde. Zudem ist für mich die Auslöschung durch die Niederschrift nur der letzte Schritt Murnaus, man darf nicht vergessen, dass er sich vorher schon weitmöglichst von seiner verhassten Familie und Wolfsegg entfernt hat. Er hat sich schon früh mit Freunde und Verwandte getroffen, die seinen Eltern verhasst waren, hat sich nie für den elterlichen Betrieb interessiert und ist keinem Konflikt mit ihnen aus dem Weg gegangen, bis er dann letztendlich nach Rom geflohen ist und so endgültig mit Wolfsegg gebrochen hat. Die Niederschrift soll jetzt nur noch dazu dienen jegliche Erinnerung auszulöschen, die eigentliche Abspaltung hat schon vorher stattgefunden. Dementsprechend hält Murnau sich z.B. nicht lange mit dem Gedanken auf die Kindervilla wieder zu restaurieren, was ja wie Towplay schon richtig bemerkt hat ein Versuch der Vergangenheitsverklärung wäre, sondern bemerkt schnell wie unsinnig dieses Anliegen ist und verwirft den Gedanken innerhalb kürzester Zeit. Der Endgültig Bruch mit Wolfsegg ist auch dann erst vollzogen, als er das Anwesen an die jüdische Gemeinde abgibt, um das Nazitum seiner Eltern zu sühnen.

      Ebenfalls verstehe ich woher der Überheblichkeitsvorwurf an Murnau kommt, würde dem aber auch widersprechen. Murnau ist nicht Arrogant gegenüber den "einfachen" Menschen, die weniger Bildung genossen haben als er, Murnau sitzt nicht in seinem Elfenbeinturm und schaut verächtlich auf den Pöbel herab, sondern Murnau prangert vor allem das Großbürgertum an. Es sind Leute wie seine Eltern, die allen Zugang zur Bildung hätten, die die finanzielle Freiheit hätten Kunst und Kultur genießen zu können, die aber die Bibliotheken verstauben lassen, zum Theater nur gehen weil sie man eben ein Theaterabo hat und ihr Leben ansonsten den Leibniz Ordnern untergeordnet haben. Diese Verlogenheit auf kultiviert zu tun, insgeheim aber Kunstschaffende zu verachten und stattdessen Nazis zu unterstützen, die perverse Heuchelei der von Materalismus und Kapitalismus total verdorbenen feinen Gesellschaft, das ist es was Murnau auslöschen möchte. Insofern sind für mich Murnaus Ausführungen eher von tiefer Verachtung und Abscheu, als von Arroganz geprägt, selbst wenn er sich einige male doch sehr in seinem Siebenkäs suhlt.

      Insgesamt bin ich sehr froh das Buch gelesen zu haben, alleine schon um den Autor Bernhard und dessen Sprache kennengelernt zu haben. Gibt auch einige Passagen in dem Buch die mich richtig abgeholt haben, z.B. die Aussage dass viele Menschen ihr Leben leben wie Murnaus Eltern ihr Theaterabo nutzen hat mich zum Denken angeregt. Es ist natürlich keine leicht zu lesende Lektüre, aber der Aufwand hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt. Danke also an E-Talk für den Vorschlag.
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    • Besteht Interesse an einer neuen Runde?
      Wollte als nächstes Thomas Mann's "Doktor Faustus" lesen, was sich, denke ich, auch gut für einen Lesezirkel eignen würde und ich somit als Vorschlag einbringen würde. Wenn ihr andere Vorschläge parat habt, dann raus damit und wir können weiter schauen, wer worauf Bock hätte.
    • elephantTalk schrieb:

      Besteht Interesse an einer neuen Runde?
      Wollte als nächstes Thomas Mann's "Doktor Faustus" lesen, was sich, denke ich, auch gut für einen Lesezirkel eignen würde und ich somit als Vorschlag einbringen würde. Wenn ihr andere Vorschläge parat habt, dann raus damit und wir können weiter schauen, wer worauf Bock hätte.
      Ich hab das schon vor Ewigkeiten gelesen und wenn ich mich richtig erinnere war das auch nicht gerade die leichteste Lektüre (Bin auch tbh so gar kein Thomas Mann Fan).
      Ich würde etwas Kürzeres vorschlagen, wie wäre es z.B. mit Dürrenmatt (Die Physiker/Besuch der alten Dame)?
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