DSDE Lesezirkel X - Reread: Der Steppenwolf (Hermann Hesse)

    • DSDE Lesezirkel X - Reread: Der Steppenwolf (Hermann Hesse)

      Lieber Lesezirkel,
      gemeinsam hatten wir uns entschieden Hesses Steppenwolf zu lesen, und weil das Event nun bald sein Fünfjahresjubileum feiert wollen wir das ganze wiederholen. Bis zum 11.12.21 haben alle Zeit, den Steppenwolf (ggf. erneut) zu lesen und hier ihre Eindrücke zu schildern.

      Hier im Thread geht es ausschließlich um das Buch im Titel. WIe wir das nächste Buch bestimmen und sowas besprechen wir weiterhin im Originalthread


      Viel Spaß!
      Let's Play: CK2, Patrizier 2, Anno 1800

      Beitrag von langbutter ()

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      Beitrag von langbutter ()

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    • Zum Traktat noch und vielleicht auch passend zum neuen Jahr.
      Ich hab in anderen Büchern oft davon gelesen, wie er beschreibt wie er oder ein Charakter eine Erkenntnis trifft und er dann sich und seine Umwelt für immer anders wahrnimmt. Im Demian gibt es zum Beispiel, dass er die Gassenwelt kennenlernt und seine brave Elternwelt ihm plötzlich klein und unbedeutender vorkommt, während er bei den Knechten und Mägden neue Züge erkennt.

      So gelesen ist das Traktat nur ein Taschenspielertrick für eine entweder plötzliche oder schleichende Entwicklung in der Harry sich selbst in neuem Licht analysiert oder auch diese Außensicht zum ersten Mal Spuren in seinem Bewusstsein hinterlässt. Es ist dann auch kein "Zufall" dass er Hermine trifft und sie immer genau das richtige sagt. Er ist nur jetzt in der Lage zuzuhören und sich auf etwas neues einzulassen.

      Ich hab noch etwas gefunden, das es mmn ganz gut beschreibt.

      Spoiler anzeigen


      In Schmerzen nur und Dunkelheit
      Wird süße Frucht geboren.
      Doch ist sie reif, so war kein Leid
      Und war kein Weh verloren.
      Ein Augenblick des Erwachens

      Zu den unvergeßlichen Augenblicken eines Lebens gehören jene seltenen, in welchen der Mensch sich selber wie von außen sieht und plötzlich Züge an sich erkennt, welche gestern noch nicht da oder ihm doch unbekannt waren: mit einem Zusammenzucken und leisen Erschrecken nehmen wir wahr, daß wir nicht das immer gleiche, festgeprägte und ewige Wesen sind, als das der Mensch sich meistens fühlt, wir erwachen aus diesem süß lügenden Traum für einen Augenblick, sehen uns verändert, gewachsen oder geschwunden, entwickelt oder verkümmert, sehen und wissen uns für einen Augenblick, sei es entsetzt oder beseligt, mit in dem unendlichen Strom der Entwicklung, der Veränderungen, der rastlos zehrenden Vergänglichkeit schwimmen, von welchen wir zwar wohl wissen, von welchen wir aber gewöhnlich uns selber und etwa einige unsrer Ideale ausnehmen. Denn wären wir wach, dehnten jene Sekunden oder Stunden des Erwachens sich zu Monaten und Jahren, so vermöchten wir nicht zu leben, wir ertrügen es auf keine Weise, und vermutlich kennen die meisten Menschen auch jene kurzen Blicke, jene Sekunden des Wachwerdens nicht, sondern wohnen zeitlebens im Turm ihres scheinbar unveränderlichen Ich wie Noah in der Arche, sehen den Lebensstrom, den Todesstrom an sich vorübertosen, sehen Fremde und Freunde von ihm fortgerissen, rufen ihnen nach, beweinen sie, und glauben selbst immerzu festzustehen und vom Ufer her zuzuschauen, nicht mitzuströmen und mitzusterben.

      Jeder Mensch ist Mittelpunkt der Welt, um jeden scheint sie sich willig zu drehen, und jeder Mensch und jedes Menschen Lebenstag ist der End- und Höhepunkt der Weltgeschichte: hinter ihm die Jahrtausende und Völker sind abgewelkt und dahingesunken, und vor ihm ist nichts, einzig dem Augenblick, dem Scheitelpunkt der Gegenwart scheint der ganze riesige Apparat der Weltgeschichte zu dienen. Der primitive Mensch empfindet jede Störung dieses Gefühls, daß er Mittelpunkt sei, daß er am Ufer stehe, während die andern vom Strom hinabgerissen werden, als Bedrohung, er lehnt es ab, erweckt und belehrt zu werden, er empfindet das Erwachen, das Berührtwerden von der Wirklichkeit, er empfindet den Geist als feindlich und hassenswert, und wendet sich mit erbittertem Instinkt von jenen ab, die er von Zuständen des Wachwerdens befallen sieht, von den Sehern, Problematikern, Genies, Propheten, Besessenen.
      Von jenen Augenblicken eines Erwachens oder Sehendwerdens, so scheint es mir heute, habe auch ich nicht sehr viele gehabt, und manche von ihnen hat mein Gedächtnis durch lange Strecken meines Lebens hin verleugnet und immer wieder mit Staub zu bedecken gesucht. Die paar Erlebnisse des Wachwerdens, welche in meine jungen Jahre fallen, waren die stärksten. Später freilich, wenn wieder einmal eine Mahnung kam, war ich erfahrener, war klüger, oder war doch weiserer und besser formulierter Reflexionen fähig, aber die Erlebnisse selbst, die Zuckungen jener wachen Momente, waren in der Jugend elementarer und über-
      raschender, sie wurden blutiger und leidenschaftlicher erlebt. Und wenn zu einem Achtzigjährigen ein Erzengel träte und ihn anredete, so würde das greise Herz auch nicht banger und nicht seliger zu schlagen vermögen als einst, da er
      jung war und zum erstenmal vor einer abendlichen Gartentür auf Lise oder Berta wartete.

      Das Erlebnis, dessen ich mich heute erinnere, hat nicht einmal Minuten gedauert, nur Sekunden. Aber in den Sekunden des Erwachens und Sehendwerdens sieht man viel, und das Erinnern und Aufzeichnen braucht, wie bei Träumen, das Vielfache an Zeit als das Erleben selbst. Es war in unsrem Vaterhaus in Calw, und es war Weih-
      nachtsabend im »schönen Zimmer« . Das Evangelium war gesprochen, das zweite Lied war gesungen, ich hatte schon während des Singens die Tischecke erspäht, wo meine Geschenke aufgebaut waren, und jetzt näherte sich jeder seinem Platze, die Mägde wurden von der Mutter an die ihren geführt. Es war im Zimmer schon warm geworden und die Luft ganz überfüllt vom Geflimmer der Kerzen, vom Wachs- und Harzgeruch und vom starken Duft des Backwerks. Die Mägde flüsterten aufgeregt miteinander und zeigten sich und betasteten ihre Sachen, eben hatte meine jüngere Schwester ihre Geschenke entdeckt und stieß einen lauten Jubelruf aus. Ich war damals entweder dreizehn oder vierzehn Jahre alt.
      Ich hatte mich, wie wir alle, vom Christbaume weg und den Tischen zugewendet, wo die Geschenke lagen, ich hatte meinen Platz mit suchenden Augen entdeckt und strebte jetzt auf ihn zu. Dabei mußte ich meinen kleinen Bruder Hans und ein niedriges Kinder-Spieltischchen umgehen, auf dem seine Bescherung aufgebaut war. Mit einem Blick streifte ich seine Geschenke, ihr Mittelpunkt und Prunkstück war ein Satz von winzig kleinem Tongeschirr; drollig liliputanische Tellerchen, Krügchen, Täßchen standen da beisammen, komisch und rührend in ihrer hübschen Kleinheit, jede Tasse war kleiner als ein Fingerhut. Über dieses
      tönerne Zwerggeschirr gebeugt, mit vorgestrecktem Kopf, stand mein kleiner Bruder, und im Vorbeigehen sah ich eine
      Sekunde lang sein Kindergesicht – er war fünf Jahre jünger als ich – und habe es in dem halben Jahrhundert, das seit-
      dem vergangen ist, manche Male in Erinnerung so wiedergesehen, wie es mir in jener Sekunde sich offenbarte: ein still strahlendes, leicht zum Lächeln zusammengenommenes, von Glück und Freude ganz und gar verklärtes und verzau-
      bertes Kindergesicht.

      Dies war das ganze Erlebnis. Es war schon vorüber, als ich mit dem nächsten Schritt bei meinen Geschenken angekom-
      men war und von ihnen in Anspruch genommen wurde, Geschenken, von denen ich heute keins mehr mir vorstellen
      und benennen kann, während ich Hansens Töpfchen noch in genauester Erinnerung habe. Im Herzen blieb das Bild be-
      wahrt, bis heute, und im Herzen geschah alsbald, kaum daß mein Auge das Brudergesicht wahrgenommen hatte, eine
      mannigfaltige Bewegung und Erschütterung. Die erste Regung im Herzen war die einer starken Zärtlichkeit gegen den kleinen Hans, gemischt jedoch mit einem Gefühl von Abstand und Überlegenheit, denn hübsch und entzückend zwar, aber kindisch erschien mir solche Verklärtheit und Beseligung über diesen kleinen tönernen Kram, den man beim Hafner für ein paar Groschen haben konnte. Indessen widersprach schon die nächste Zuckung des Herzens wieder: sofort nämlich, oder eigentlich schon gleichzeitig empfand ich meine Verachtung für diese Krügelchen und Täßchen als etwas Schmähliches, ja Gemeines, und noch schmählicher war mein Gefühl von Klügersein und von Überlegenheit über den Kleineren, der sich noch so bis zur Entrücktheit zu freuen vermochte und für den die Weihnacht, die Täßchen und das alles noch den vollen Zauberglanz und die
      Heiligkeit hatten, die sie einst auch für mich gehabt hatten.

      Das war der Kern und Sinn dieses Erlebnisses, das Aufweckende und Erschreckende: es gab den Begriff »Einst« für mich! Hans war ein Kind, ich aber wußte plötzlich, daß ich keines mehr sei und nie mehr sein würde! Hans erlebte sein Gabentischchen wie ein Paradies, und ich war nicht nur solchen Glückes nicht mehr fähig, sondern ich fühlte mich ihm mit Stolz entwachsen, mit Stolz und doch auch beinah mit Neid. Ich blickte zu meinem Bruder, der eben noch meinesgleichen gewesen war, aus einer Distanz hinüber, von oben und kritisch, und fühlte zugleich Scham darüber, daß ich ihn und sein Tongeschirr so hatte betrachten können, so zwischen Mitleid und Verachtung, so zwischen Überheblichkeit und Neid. Ein Augenblick hatte diese Distanz geschaffen, hatte diese tiefe Kluft aufgerissen. Ich sah und wußte plötzlich: ich war kein Kind mehr, ich war älter und klüger als Hans, und war auch böser und kälter.

      Es war an jenem Christabend nichts geschehen, als daß ein kleines Stück Wachstum in mir drängte und Unbehagen schuf, daß im Prozeß meiner Ichwerdung einer von tausend Ringen sich schloß – aber er tat es nicht, wie fast alle, im Dunkeln, ich war einen Augenblick wach und mit Bewußtsein dabei, und ich wußte zwar nicht, konnte es aber am Widerstreit meiner Empfindungen deutlich spüren, daß es kein Wachstum gibt, das nicht ein Sterben enthält. Es fiel in jenem Augenblick ein Blatt vom Baum, es welkte eine Schuppe von mir ab. Dies geschieht in jeder Stunde unsres Lebens, es ist des Werdens und Welkens kein Ende, aber nur sehr selten sind wir wach und achten einen Augenblick auf das, was in uns vorgeht.


      Eine andere Geschichte in dem Buch erzählt davon, wie er einer Buche in seinem Garten Jahr für Jahr dabei zusieht, wie sie im Frühjahr die Reste der alten Blätter abwirft, die bis zuletzt die frischen Knospen geschützt haben. Jahrelang hat er gewartet und es ist mit einem Mal passiert, wenn er nicht hingesehen hat, aber eines Frühlingsmorgens, saß er beim Frühstück am Fenster und es kommt eine scharfe Windböe mit dem der Baum in einem Augenblick alle braunen Blätter auf einmal verliert.
      The verdict is not the end
      It is only the beginning
      Strong will shall keep spreading
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