DSDE Lesezirkel X - Reread: Der Steppenwolf (Hermann Hesse)

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    • DSDE Lesezirkel X - Reread: Der Steppenwolf (Hermann Hesse)

      Lieber Lesezirkel,
      gemeinsam hatten wir uns entschieden Hesses Steppenwolf zu lesen, und weil das Event nun bald sein Fünfjahresjubileum feiert wollen wir das ganze wiederholen. Bis zum 11.12.21 haben alle Zeit, den Steppenwolf (ggf. erneut) zu lesen und hier ihre Eindrücke zu schildern.

      Hier im Thread geht es ausschließlich um das Buch im Titel. WIe wir das nächste Buch bestimmen und sowas besprechen wir weiterhin im Originalthread


      Viel Spaß!
      Let's Play: CK2, Patrizier 2, Anno 1800
    • Habe heute den Tag genutzt und das Buch nochmal angefangen. Bin jetzt auf Seite 170, kurz nachdem Pablo das erste mal auftaucht.

      In Erinnerung hatte ich noch den Wandel den Harry durchgemacht hat, vom verbitterten Außenseiter der in seiner Gedankenwelt gefangen ist, hin zum im Moment lebenden Genussmenschen. Ich weiß noch, dass ich mich in seiner verkrampften Negativität zwar schon widererkannt habe, ich mich als ich das Buch gelesen habe aber schon deutlich davon entfernt hatte und es mir deshalb schwer gefallen war mich mit Harry zu identifizieren. Einzelne Textstellen fand ich sehr treffend formuliert und die Erkenntnis, dass man sein Leben nicht überanalysieren, sondern einfach erfahren sollte fand ich gut beschrieben. Beim Ende hatte mich das Buch dann aber verloren, das war mir irgendwie zu wirr und fantastisch.

      Überrascht hat mich beim nochmaligen Lesen jetzt, dass die geradezu magischen Begebenheiten schon viel früher in der Geschichte anfangen und ich dazu überhaupt keine Erklärung in Erinnerung habe. Auch, dass das Vorwort nach den Geschehnissen der Geschichte spielt und damit einen Schluss über das Ende von Harry zulässt hatte ich komplett vergessen. Deshalb fühle ich mich jetzt so, als ob ich das gesamte Buch beim ersten Lesen nicht wirklich verstanden habe, insbesondere auch da ich auf die folgenden Fragen überhaupt keine Antwort habe:

      Stand ca. Seite 170

      • Wer hat das Traktat geschrieben? Wieso hat dieser mysteriöse Mann eine so detaillierte Beschreibung von Harry einfach so in der Tasche, und wieso gibt er ihm diese komplett kommentarlos? Wieso ist Harry darüber nicht genau so verwundert wie ich?
      • Wer ist Hermine? Wieso kann Harry über die Erinnerung an seinen Jugendfreund ihren Namen erraten? Das ist nicht wie Namen funktionieren. Wieso ahnt Hermine oben drauf auch noch, dass er genau dazu in der Lage ist?
      • Wieso kann Hermine so genau lesen was in Harrys Innerem vorgeht? Beim ersten Lesen habe ich das glaube ich einfach hingenommen als die Retterin, die in der Not genau das richtige für ihn tun kann. Beim nochmaligen Lesen erscheint mir das ganze aber lächerlich unwahrscheinlich, sie kann ja geradezu seine Gedanken lesen.
      • Wie geht es Harry nach den Geschehnissen die im Buch beschrieben sind? Wie hat er sein Leben weitergelebt? Die Beschreibungen des Neffens legen ja nahe, dass er sich selbst jetzt mit einem gewissen Humor sieht und er das bürgerliche Leben zu achten gelernt hat. Allerdings macht er trotzdem noch einen melancholischen Eindruck. Hat er jetzt gelernt das Leben zu genießen oder gibt er sich weiter seinem Weltschmerz hin?


      Beim nochmaligen Lesen erscheint es mir so als wären das Fragen die mit dem Ende erklärt werden würden, da ich daran aber überhaupt keine Erinnerung mehr habe lasse ich die mal hier stehen. Entweder sie werden noch eindeutig beantwortet und ich habe das nur vergessen, oder sie bleiben offen und ich habe mir scheinbar keine Gedanken dazu gemacht. Stand jetzt kommt mir das ganze aber so vor, als solle die Geschichte dem Leser von Anfang an absichtlich stark unglaubwürdig erscheinen, was dann beim ersten Lesen irgendwie an mir vorbei gegangen wäre. ?(

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    • Ich hatte das Buch dann direkt am Folgetag fertig gelesen und habe seit dem noch ein bisschen drüber nachgedacht. Dabei habe ich mich dann daran erinnert, dass ich mir ähnliche Fragen auch damals beim ersten Lesen schon gestellt habe, sie aber nicht beantworten konnte, weil ich das Ende nicht verstanden und damit keinen Abschluss gefunden hatte. Deshalb versuche ich das jetzt mal gerade zu rücken, damit ich beim nächsten Lesen nicht nochmal so ratlos vorm Buch sitze.

      Für mich ist es jetzt sehr eindeutig, dass die geschilderten Geschehnisse nicht das reale Leben von Harry beschreiben sollen, sondern ein Versuch von ihm sind darzustellen, wie er mit seinem Unterbewussten in Kontakt getreten und so einen psychischen Heilungsprozess in Gang gesetzt hat. Das ganze wird ja im Buch auch so im Vorwort vom Neffen beschrieben:

      Der Neffe schrieb:

      Es war mir nicht möglich, die Erlebnisse, von denen Hallers Manuskript erzählt, auf ihren Gehalt an Realität nachzuprüfen. Ich zweifle nicht daran, daß sie zum größten Teil Dichtung sind, nicht aber im Sinn willkürlicher Erfindung, sondern im Sinne eines Ausdrucksversuches, der tief erlebte seelische Vorgänge im Kleide sichtbarer Ergeignisse darstellt.
      Das bietet eine sehr einfach Antwort auf die Frage warum Harry die ganzen magischen Gegebenheiten einfach so hinnimmt. Die späteren Episoden mit Pablo ließen sich vielleicht noch mit drogeninduzierten Halluzinationen erklären, aber gerade das Traktat und Hermines Auftreten müssten Harry ja eigentlich komplett surreal vorkommen. Dass er das nicht einmal zur Kenntniss zu nehmen scheint, lässt sich für mich nur damit erklären, dass diese Geschehnisse so nie passiert sind und eine bewusste Dichtung von ihm sind.

      Das Traktat symbolisiert für mich dabei die analytische Auseinandersetzung Harrys mit sich selbst. Es ist keine Einsicht, die ihm irgendein Fremder gegeben hat, sondern seine eigenen Gedanken die er mit der Zeit über sich selbst gesammelt hat. Etwas später im Buch sagt er ja auch selbst:

      Harry Haller schrieb:

      Ich hätte über die Zusammenhänge und Ursachen meines Leidens, meiner Seelenkrankheit, meiner Verhextheit und Neurose die klügsten und einsichtsvollsten Sachen sagen können, die Mechanik war mir durchsichtig. Aber nicht Wissen und Verstehen war es, was not tat, wonach ich mich so verzweifelt sehnte, sondern Erleben, Entscheidung, Stoß und Sprung,
      Im Traktat sind also gerade diese "klügsten und einsichtsvollsten Sachen" gesammelt. Harry ist sich seiner Situation bewusst, ist aber zum Schluss gekommen, dass er sich nicht aus ihr herausanalysieren kann, sondern nur durch eine veränderte Einstellung glücklich werden wird. Dies versucht er durch eine Auseinandersetzung mit sich selbst zu erreichen. Die restliche Geschichte ist dann ein Versuch genau diese Auseinandersetzung literarisch aufzuarbeiten und erfundene Personen und Begebenheiten dazu zu verwenden, um die verschiedenen Aspekte seiner Psyche für den Leser greifbar zu machen.

      Der Groschen ist bei mir gefallen, als ich auf Wikipedia gelesen habe, dass Hermann Hesse selbst bei einem Mitarbeiter von Carl Gustav Jung in Behandlung war. Jetzt kenne ich mich mit der jungschen Psychoanalyse zwar nicht sonderlich gut aus, aber ein paar grundlegende Begrifflichkeiten waren mir schon bekannt (Danke MJK) und haben mir dabei geholfen die Grundzüge der Geschichte zu interpretieren.

      Hermine ist für mich Harry Hallers Anima, also die Personifikation der weiblichen Natur innerhalb seiner Seele. Diese ist laut Jung der Zugang zu seinem Unterbewussten. Dazu hatte der er im Vorfeld der Geschichte den Bezug verloren, was die Ursache für seine seelischen Leiden ist. Um seine Verstimmungen überwinden zu können muss er also die weiblichen Züge seiner selbst in seine Persönlichkeit reintegrieren. Die Dialoge mit Hermine sind für mich ein Sinnbild für das Einleiten dieses Vorgangs, der in Wahrheit ja komplett in Harrys Kopf stattfinden würde und sich so nur schlecht niederschreiben ließe. Hermine und Harry sind also Aspekte ein und derselben Person, die zum ersten mal in Kontakt mit sich selbst tritt. Deshalb kann Hermine auch so genau lesen was in Harrys Kopf vorgeht und deshalb teilt sie auch seinen Weltschmerz. Sie zeigt ihm den Weg aus diesem Schmerz indem sie ihn mit Pablo bekannt macht und ihn damit mit den unterbewussten Vorgängen in seiner Seele konfrontiert.

      Anfangs ist Harry ja abgeneigt gegenüber den einfachen Freuden des Lebens. Er hasst Jazz, Tanzlokale, Leuchtreklame und alle Dinge die oberflächlichen Spaß bereiten. Er fühlt Angst und Scham wenn er sich sinnlichen Freuden hingibt. Es wird zwar nie ausformuliert, aber ich glaube unterbewusst beneidet er auch alle Menschen für die diese Dinge einfach zugänglich sind. Ähnlich zu Äsops Fabel, in dem der Fuchs sich einredet er wolle die für ihn unerreichbaren Trauben gar nicht haben, weil sie sowieso sauer seien, redet Harry sich ein, dass diese einfachen Formen von Genuß und Unterhaltung sowieso nicht erstrebenswert sind, um sich seinen Neid nicht eingestehen zu müssen. Seine Verachtung gegenüber anderen Menschen und auch seiner selbst entsteht aus diesem Selbstbetrug, den Harry eingeht um sein Selbstbild vom erhabenen Geistesmenschen aufrecht zu erhalten. Pablo ist nun die Personifikation all dieser Dinge die Harry anfangs verabscheut und damit ein Sinnbild für seinen Schatten. Er ist scham- und angstlos, lebt im Moment und gibt sich allen möglichen leiblichen Freuden hin. Dass sich Harry langsam mit Pablo anfreundet steht also dafür, dass er seinen Schatten zu akzeptieren lernt, sich auf ihn einlässt und damit die toxischen Gedankenkonstrukte zu überwinden lernt, die er früher aufgebaut hat um eben jenen Schatten auszublenden.

      Die gesamte Geschichte ist also eine Allegorie dafür, wie Harry aus einer sehr unausgewogenen seelischen Lebenslage langsam in Kontakt mit seinem Unterbewussten tritt und zu lernen beginnt, dass seine bewusste Gedankenwelt nur ein kleiner Teil seiner selbst ist, der auch noch aktiv seiner Selbstfindung im Weg steht und für seine seelischen Leiden mitverantwortlich ist. Deshalb ist der Humor so ein zentraler Bestandteil seiner Erlösung. Wenn er lernen kann über sein eigenes Selbstbild zu lachen und seine falschen Gedanken nicht mehr ernst zu nehmen, dann wird er glücklich werden können. Dass ihm das zum Ende des Romans noch nicht vollständig gelungen ist, wird durch den Mord an Hermine symbolisiert. Als er sieht, dass sie nackt neben Pablo liegt überkommt ihn wieder sein Neid auf andere Menschen, die das Leben zwanglos genießen können. Er gibt sich seinen destruktiven Impulsen hin und ersticht Hermine aus Eifersucht anstatt sich seinen unterbewussten Gefühlen zu stellen und über sein verkrampftes Selbstbild zu lachen. Da das ganze aber nur ein inneres Ringen seiner Psyche ist und niemand in der Wirklichkeit ermordet wurde, ist seine Strafe dafür einfach nur, dass er kurz von seinen Idolen gescholten wird und danach weiterleben muss, sich nicht seinen selbstzerstörerischen Gedanken hingeben und sich nicht das Leben nehmen darf, sondern immer wieder aufs neue versuchen muss mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ob ihm das am Ende gelingt, das bleibt offen. Wir können uns nur auf die Einschätzung des Neffens im Vorwort beziehen, der folgendes schreibt:

      Der Neffe schrieb:

      Nein, ich bin davon überzeugt, daß er sich nicht das Leben genommen hat. Er lebt noch, er geht irgendwo auf seinen müden Beinen die Treppen fremder Häuser auf und ab, starrt irgendwo auf blankgescheuerte Parkettböden und auf sauber gepflegte Araukarien, sitzt Tage in Bibliotheken und Nächte in Wirtshäusern oder liegt auf einem gemieteten Kanapee, hört hinter den Fenstern die Welt und die Menschen leben und weiß sich ausgeschlossen, tötet sich aber nicht, denn ein Rest von Glaube sagt ihm, daß er dies Leiden, dies böse Leiden in seinem Herzen zu Ende kosten und daß dies Leiden es sei, woran er sterben müsse.
      Es wird für Harry also immer wieder ein Kampf mit sich selbst sein. Er hat keinesfalls komplett eine hedonistische Lebensweise angenommen, sondern muss seinen Platz zwischen den zwei Extremen finden, wobei ihm nur das Lachen über seine eigenen Verirrungen helfen kann.

      Zum Abschluss wollte ich noch folgendes Zitat hier stehen lassen, das ich bei der Recherche gefunden habe. Ich finde es ist eine gute Zusammenfassung von Harrys Leiden und wäre nicht verwundert, wenn Hesse das auch so beabsichtigt hätte.

      Carl Gustav Jung schrieb:

      Menschen tun alles, egal wie absurd, um ihrer eigenen Seele nicht zu begegnen. Man wird nicht erleuchtet, in dem man sich Figuren aus Licht vorstellt, sondern indem man die Dunkelheit bewusst macht.

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    • Zum Traktat noch und vielleicht auch passend zum neuen Jahr.
      Ich hab in anderen Büchern oft davon gelesen, wie er beschreibt wie er oder ein Charakter eine Erkenntnis trifft und er dann sich und seine Umwelt für immer anders wahrnimmt. Im Demian gibt es zum Beispiel, dass er die Gassenwelt kennenlernt und seine brave Elternwelt ihm plötzlich klein und unbedeutender vorkommt, während er bei den Knechten und Mägden neue Züge erkennt.

      So gelesen ist das Traktat nur ein Taschenspielertrick für eine entweder plötzliche oder schleichende Entwicklung in der Harry sich selbst in neuem Licht analysiert oder auch diese Außensicht zum ersten Mal Spuren in seinem Bewusstsein hinterlässt. Es ist dann auch kein "Zufall" dass er Hermine trifft und sie immer genau das richtige sagt. Er ist nur jetzt in der Lage zuzuhören und sich auf etwas neues einzulassen.

      Ich hab noch etwas gefunden, das es mmn ganz gut beschreibt.

      Spoiler anzeigen


      In Schmerzen nur und Dunkelheit
      Wird süße Frucht geboren.
      Doch ist sie reif, so war kein Leid
      Und war kein Weh verloren.
      Ein Augenblick des Erwachens

      Zu den unvergeßlichen Augenblicken eines Lebens gehören jene seltenen, in welchen der Mensch sich selber wie von außen sieht und plötzlich Züge an sich erkennt, welche gestern noch nicht da oder ihm doch unbekannt waren: mit einem Zusammenzucken und leisen Erschrecken nehmen wir wahr, daß wir nicht das immer gleiche, festgeprägte und ewige Wesen sind, als das der Mensch sich meistens fühlt, wir erwachen aus diesem süß lügenden Traum für einen Augenblick, sehen uns verändert, gewachsen oder geschwunden, entwickelt oder verkümmert, sehen und wissen uns für einen Augenblick, sei es entsetzt oder beseligt, mit in dem unendlichen Strom der Entwicklung, der Veränderungen, der rastlos zehrenden Vergänglichkeit schwimmen, von welchen wir zwar wohl wissen, von welchen wir aber gewöhnlich uns selber und etwa einige unsrer Ideale ausnehmen. Denn wären wir wach, dehnten jene Sekunden oder Stunden des Erwachens sich zu Monaten und Jahren, so vermöchten wir nicht zu leben, wir ertrügen es auf keine Weise, und vermutlich kennen die meisten Menschen auch jene kurzen Blicke, jene Sekunden des Wachwerdens nicht, sondern wohnen zeitlebens im Turm ihres scheinbar unveränderlichen Ich wie Noah in der Arche, sehen den Lebensstrom, den Todesstrom an sich vorübertosen, sehen Fremde und Freunde von ihm fortgerissen, rufen ihnen nach, beweinen sie, und glauben selbst immerzu festzustehen und vom Ufer her zuzuschauen, nicht mitzuströmen und mitzusterben.

      Jeder Mensch ist Mittelpunkt der Welt, um jeden scheint sie sich willig zu drehen, und jeder Mensch und jedes Menschen Lebenstag ist der End- und Höhepunkt der Weltgeschichte: hinter ihm die Jahrtausende und Völker sind abgewelkt und dahingesunken, und vor ihm ist nichts, einzig dem Augenblick, dem Scheitelpunkt der Gegenwart scheint der ganze riesige Apparat der Weltgeschichte zu dienen. Der primitive Mensch empfindet jede Störung dieses Gefühls, daß er Mittelpunkt sei, daß er am Ufer stehe, während die andern vom Strom hinabgerissen werden, als Bedrohung, er lehnt es ab, erweckt und belehrt zu werden, er empfindet das Erwachen, das Berührtwerden von der Wirklichkeit, er empfindet den Geist als feindlich und hassenswert, und wendet sich mit erbittertem Instinkt von jenen ab, die er von Zuständen des Wachwerdens befallen sieht, von den Sehern, Problematikern, Genies, Propheten, Besessenen.
      Von jenen Augenblicken eines Erwachens oder Sehendwerdens, so scheint es mir heute, habe auch ich nicht sehr viele gehabt, und manche von ihnen hat mein Gedächtnis durch lange Strecken meines Lebens hin verleugnet und immer wieder mit Staub zu bedecken gesucht. Die paar Erlebnisse des Wachwerdens, welche in meine jungen Jahre fallen, waren die stärksten. Später freilich, wenn wieder einmal eine Mahnung kam, war ich erfahrener, war klüger, oder war doch weiserer und besser formulierter Reflexionen fähig, aber die Erlebnisse selbst, die Zuckungen jener wachen Momente, waren in der Jugend elementarer und über-
      raschender, sie wurden blutiger und leidenschaftlicher erlebt. Und wenn zu einem Achtzigjährigen ein Erzengel träte und ihn anredete, so würde das greise Herz auch nicht banger und nicht seliger zu schlagen vermögen als einst, da er
      jung war und zum erstenmal vor einer abendlichen Gartentür auf Lise oder Berta wartete.

      Das Erlebnis, dessen ich mich heute erinnere, hat nicht einmal Minuten gedauert, nur Sekunden. Aber in den Sekunden des Erwachens und Sehendwerdens sieht man viel, und das Erinnern und Aufzeichnen braucht, wie bei Träumen, das Vielfache an Zeit als das Erleben selbst. Es war in unsrem Vaterhaus in Calw, und es war Weih-
      nachtsabend im »schönen Zimmer« . Das Evangelium war gesprochen, das zweite Lied war gesungen, ich hatte schon während des Singens die Tischecke erspäht, wo meine Geschenke aufgebaut waren, und jetzt näherte sich jeder seinem Platze, die Mägde wurden von der Mutter an die ihren geführt. Es war im Zimmer schon warm geworden und die Luft ganz überfüllt vom Geflimmer der Kerzen, vom Wachs- und Harzgeruch und vom starken Duft des Backwerks. Die Mägde flüsterten aufgeregt miteinander und zeigten sich und betasteten ihre Sachen, eben hatte meine jüngere Schwester ihre Geschenke entdeckt und stieß einen lauten Jubelruf aus. Ich war damals entweder dreizehn oder vierzehn Jahre alt.
      Ich hatte mich, wie wir alle, vom Christbaume weg und den Tischen zugewendet, wo die Geschenke lagen, ich hatte meinen Platz mit suchenden Augen entdeckt und strebte jetzt auf ihn zu. Dabei mußte ich meinen kleinen Bruder Hans und ein niedriges Kinder-Spieltischchen umgehen, auf dem seine Bescherung aufgebaut war. Mit einem Blick streifte ich seine Geschenke, ihr Mittelpunkt und Prunkstück war ein Satz von winzig kleinem Tongeschirr; drollig liliputanische Tellerchen, Krügchen, Täßchen standen da beisammen, komisch und rührend in ihrer hübschen Kleinheit, jede Tasse war kleiner als ein Fingerhut. Über dieses
      tönerne Zwerggeschirr gebeugt, mit vorgestrecktem Kopf, stand mein kleiner Bruder, und im Vorbeigehen sah ich eine
      Sekunde lang sein Kindergesicht – er war fünf Jahre jünger als ich – und habe es in dem halben Jahrhundert, das seit-
      dem vergangen ist, manche Male in Erinnerung so wiedergesehen, wie es mir in jener Sekunde sich offenbarte: ein still strahlendes, leicht zum Lächeln zusammengenommenes, von Glück und Freude ganz und gar verklärtes und verzau-
      bertes Kindergesicht.

      Dies war das ganze Erlebnis. Es war schon vorüber, als ich mit dem nächsten Schritt bei meinen Geschenken angekom-
      men war und von ihnen in Anspruch genommen wurde, Geschenken, von denen ich heute keins mehr mir vorstellen
      und benennen kann, während ich Hansens Töpfchen noch in genauester Erinnerung habe. Im Herzen blieb das Bild be-
      wahrt, bis heute, und im Herzen geschah alsbald, kaum daß mein Auge das Brudergesicht wahrgenommen hatte, eine
      mannigfaltige Bewegung und Erschütterung. Die erste Regung im Herzen war die einer starken Zärtlichkeit gegen den kleinen Hans, gemischt jedoch mit einem Gefühl von Abstand und Überlegenheit, denn hübsch und entzückend zwar, aber kindisch erschien mir solche Verklärtheit und Beseligung über diesen kleinen tönernen Kram, den man beim Hafner für ein paar Groschen haben konnte. Indessen widersprach schon die nächste Zuckung des Herzens wieder: sofort nämlich, oder eigentlich schon gleichzeitig empfand ich meine Verachtung für diese Krügelchen und Täßchen als etwas Schmähliches, ja Gemeines, und noch schmählicher war mein Gefühl von Klügersein und von Überlegenheit über den Kleineren, der sich noch so bis zur Entrücktheit zu freuen vermochte und für den die Weihnacht, die Täßchen und das alles noch den vollen Zauberglanz und die
      Heiligkeit hatten, die sie einst auch für mich gehabt hatten.

      Das war der Kern und Sinn dieses Erlebnisses, das Aufweckende und Erschreckende: es gab den Begriff »Einst« für mich! Hans war ein Kind, ich aber wußte plötzlich, daß ich keines mehr sei und nie mehr sein würde! Hans erlebte sein Gabentischchen wie ein Paradies, und ich war nicht nur solchen Glückes nicht mehr fähig, sondern ich fühlte mich ihm mit Stolz entwachsen, mit Stolz und doch auch beinah mit Neid. Ich blickte zu meinem Bruder, der eben noch meinesgleichen gewesen war, aus einer Distanz hinüber, von oben und kritisch, und fühlte zugleich Scham darüber, daß ich ihn und sein Tongeschirr so hatte betrachten können, so zwischen Mitleid und Verachtung, so zwischen Überheblichkeit und Neid. Ein Augenblick hatte diese Distanz geschaffen, hatte diese tiefe Kluft aufgerissen. Ich sah und wußte plötzlich: ich war kein Kind mehr, ich war älter und klüger als Hans, und war auch böser und kälter.

      Es war an jenem Christabend nichts geschehen, als daß ein kleines Stück Wachstum in mir drängte und Unbehagen schuf, daß im Prozeß meiner Ichwerdung einer von tausend Ringen sich schloß – aber er tat es nicht, wie fast alle, im Dunkeln, ich war einen Augenblick wach und mit Bewußtsein dabei, und ich wußte zwar nicht, konnte es aber am Widerstreit meiner Empfindungen deutlich spüren, daß es kein Wachstum gibt, das nicht ein Sterben enthält. Es fiel in jenem Augenblick ein Blatt vom Baum, es welkte eine Schuppe von mir ab. Dies geschieht in jeder Stunde unsres Lebens, es ist des Werdens und Welkens kein Ende, aber nur sehr selten sind wir wach und achten einen Augenblick auf das, was in uns vorgeht.


      Eine andere Geschichte in dem Buch erzählt davon, wie er einer Buche in seinem Garten Jahr für Jahr dabei zusieht, wie sie im Frühjahr die Reste der alten Blätter abwirft, die bis zuletzt die frischen Knospen geschützt haben. Jahrelang hat er gewartet und es ist mit einem Mal passiert, wenn er nicht hingesehen hat, aber eines Frühlingsmorgens, saß er beim Frühstück am Fenster und es kommt eine scharfe Windböe mit dem der Baum in einem Augenblick alle braunen Blätter auf einmal verliert.
      The verdict is not the end
      It is only the beginning
      Strong will shall keep spreading